50. Kapitel

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"Als ich dich in der Besenkammer zum ersten Mal gesehen habe, war mir sofort klar, dass du anders bist, als die Frauen, die es sonst in deiner Welt gibt. ... Und in meiner auch."

Er wand sich etwas, doch nur, um mich noch enger an seine Brust zu ziehen. Dann sprach er ruhig weiter.

"Du sahst so ... mitgenommen aus. Und ich hatte erst Mitleid mit dir. Der Ausschlag und das blaue Augen haben sicherlich geschmerzt. Doch kein Mucks kam über deine Lippen. Im Gegenteil... du hast dich entschuldigt, für das Chaos, was du angerichtet hattest. Du warst stets höflich und hast uns ... gleich behandelt. Du warst ganz allein, wusstest, dass du keine Hilfe erwarten kannst und hast alles mit aufgeräumt und ... als du in diesem Blaumann vor mir standest, habe ich, glaube ich, noch nie eine Frau gesehen, die mehr Kampfgeist ausgestrahlt hat, als du. Deine Augen haben gefunkelt und du hattest keine Angst."

Er stockte für einen Moment und spielte gedankenverloren mit einem Faden meines Kleides.

"Ich habe dich bewundert für deinen Mut. Früher hat mein Br... Früher habe ich die Geschichten von Nimmerland geliebt. Peter Pan war mein großes Vorbild und ich wollte so sein, wie er. Und in diesem Moment, dem Moment in der Besenkammer, warst du für mich Tiger Lily. Die Anfüherin des stolzen Indiander Stammes, dass Captain Hook trotzt. Und danach immer wieder. Immer wieder hast du gekämpft, wenn andere aufegeben hätten. Du hast einen anderen Weg eingeschlagen und Niederlagen eingesteckt. Du hast deine eigenen Erwartungen und Prinzipien, nach denen du lebst. Du beugst dich nicht den Vorschriften, die andere dir machen wollen."

Mit klopfenden Herzen hatte ich seinen Worten gelauscht. Es war das Schönste, was jemals jemand zu mir gesagt hatte. Ich selbst hatte Peter Pan zwar nie gelesen, aber Nanny Dove hatte mir viele Geschichten erzählt, von dem Junge, der nicht erwachsen werden wollte. Ich war zutiefst gerührt, doch eine Frage wollte sich einfach nicht in den Hintergrund drängen lassen.

"Wer hat dir diese Geschichten vorgelesen?"

"... Mein ... Bruder." Seine Stimme klang plötzlich abweisend und ich spürte, wie sich seine Atmung veränderte. Hektischer wurde. 

"Wie war sein Name?", fragte ich sanft.

Eine zeitlang sagte er nichts und ich musste mich zwingen, im Kopf bis zehn zu zählen, um ihn nicht zu bedrängen. Doch schließlich flüsterter er leise und kaum hörbar einen Namen.

"Louis."

Er strahlte plötzlich eine unfassbare Hitze aus. Ich hatte mich ausführlich mit diesen Symptomen in Vorbereitung auf mein Medizinstudium beschäftigt. Er schien kurz vor einer Panikattacke zu stehen.

Die Fotos... Der Junge, der Luca so ähnlich sah, nur viel blasser und ... müder. Das schien eines der Dinge zu sein, die ihn belasteten und vielleicht war das auch der Grund für seine ständig wechselnden Stimmungen. Ich beschloss, nicht weiter nach Louis zu fragen. Später. Vielleicht. Wenn er bereit war, mir etwas darüber zu erzählen.

Seine Hände lagen verkrampft und verschwitzt auf meinen. Es ging ihm nicht gut und mein Herz zog sich schmerzvoll zusammen, weil ich ihm seine Qualen nicht nehmen konnte.

Aber ich konnte sie lindern.

Rasch stand ich auf und zog ihn mit mir.

"Was machst du...?"

"Komm, komm mit!" Ich nahm seine Hand und zog ihn Richtung Meer.

"Zieh deine Schuhe aus", forderte ich.

"Also, ich weiß ja nicht, was das soll, aber okay." Mit leichtem Zögern entledigte er sich seiner Schuhe und Socken und stand barfuß im Sand vor mir. seine Füße waren vorhin sowieso schon nass geworden.

Langsam zog ich ihn in die sanften Wellen, die an Land gespült wurden. Die kühle Nachtluft umwehte uns und ich spürte, wie sich seine Atmung beruhigte.

Trotzdem war der Luca von vorhin verschwunden. Nun war er wieder der Luca, der sich verschloss und der mich von sich stieß.

Unschlüssig und verloren stand er vor mir.

"Wir sollten langsam aufbrechen", meinte er tonlos.

Ich wusste, dass es für ihn aus irgendeinem Grund wichtig war, sich zurückzuziehen. Aber es machte mich verrückt, dass ich ihn nicht kannte und ich fühlte mich unfassbar hilflos. Ich wusste auch, dass es im Grunde nicht an mir lag, dass er so war, sondern an den inneren Dämonen, die ihn quälten .... und dennoch tat es so weh, wenn er sich so verhielt.

"Möchtest du aufbrechen?" Ich zwang mich, meine Stimme ruhig und gefasst zu halten, was mir zum Glück auch gelang. Nichts von meinem inneren Chaos war darin zu erkennen. Eine Weile schwieg er, mied meinen Blick, als könnte er ihn nicht ertragen.

Nun, ich konnte diese Stille auch nicht ertragen.

Entschlossen trat ich näher an ihn heran, nahm seine Hand und hob sein Kinn an, damit ich ihn ansehen konnte. So, wie er es bei mir auch immer tat. In seinen Augen schimmerte Schmerz, Trauer, aber auch noch etwas anderes... Etwas, was mein Herz schneller schlagen ließ und mich noch mutiger machte.

"Möchtest du jetzt gehen und mich wieder ins Hotel bringen?", wiederholte ich meine Frage.

"Denn wenn ja, wenn das das Wichtigste für dich ist, dann werde ich dir helfen zusammen zu packen und wir gehen. Aber falls nicht..."

Ich trat noch einen Schritt näher, sodass sich unsere Körper nun berührten und fuhr mit meinen Fingern die Linie seiner Lippen nach.

"... falls nicht, dann lass mich hier bei dir und ... ich helfe dir, zu vergessen. Nur für eine Nacht."



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