10. Kapitel

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"Meine Mum wird nicht kommen. Zumindest nicht, um mir zu helfen", murmelte ich leise.

"Wenn sie dir nicht hilft, warum kommt sie dann?"

"Weiß nicht", gab ich ironisch zurück. "Wahrscheinlich, um mich standesgemäß zu erschießen?"

Ich wollte die Situation nur mit einem kleinen Witz auflockern, doch er sah sehr wohl, dass ich nur zum Teil scherzte. Seine Faust spannte sich wieder an und damit auch sein Bizeps. Durch diese Bewegung rutschte sein Ärmel ein Stück nach oben und ich sah Tattoos an seinen Handgelenk aufblitzen.

Seine Augen sahen definitiv zu viel. Sie waren zu intensiv. Zu tief ... und zu viel für mich. Ich wollte mich in ihnen verlieren.

Aber das war das Letzte, was ich durfte. 

Doch ich konnte nichts dagegen tun. Er brachte alles in mir durcheinander. Und dabei kannte ich ihn erst seit zehn Minuten. Das war nicht gut. Das erinnerte mich zu sehr an Romeo und Julia und wie das Ende der beiden aussah, muss ich ja nicht erklären...

Schnell drehte ich mich wieder um. Wegen meiner Vitalwerte und Herz-Kreislauffunktionen und so, die in seiner Nähe winkend in den Urlaub fuhren... 

"Außerdem ist mein Name nicht Lily", murmelte ich nachdrücklich in den Schrank hinein.

Plötzlich spürte ich zwei Hände, die sich auf meine Schultern legten und mich sanft umdrehten. Ich roch seinen Kiefernduft und spürte die Wärme seiner Berührung durch den dünnen Stoff des Kleides und mein Magen kribbelte, als hätte ich einen Bienenschwarm verschluckt.

Sanft strich er mir übers Gesicht.

Mein Atem stockte und mein Herz schlug unregelmäßig.

So viel zum Thema: Lebensfunktionen erhalten und so ...

Ich sollte ... irgendwie .... was cooles sagen ... ?!

Aber: Keine Chance. Mein Denkzentrum war vollkommen lahm gelegt. Ich starrte ihn nur blöd an und kam ziemlich sicher ein bisschen dümmlich rüber.

"Wenn du da wirklich wieder rauswillst, müssen wir was gegen diese Schwellung machen. Ohne Witz, ein Profiboxer nach einem Kampf ist nichts gegen dich", sagte er leise. Er machte eine kurze Pause und warf mir einen beudeutungsvollen Blick zu.

"Nach einem haushoch verlorenen Kampf."

"Mhhh. Pfhm", war alles, was ich  herausbrachte.

Ganz fantastisch. Mein Rhetoriklehrer wäre stolz auf mich...

An seinem Kinn und quer über seine Augenbraue verliefen mehrere Narben. Sie waren hell und verheilt und verliehen ihn einen unglaublich rebellischen touch. Doch sie verrieten mir auch, dass er mit Kämpfen eindeutig mehr Erfahrung hatte, als es den Anschein hatte.

"Du hast recht", ertönte die Stimme von Mister Hemken. Ich war so auf Adonis fixiert gewesen, dass ich ganz vergessen hatte, dass er noch da war.

"Ich werde sofort was zum Kühlen holen. Dann kriegen wir das ganz schnell hin, mein Mädchen." Eilig verließ er den Raum, bevor Mr. Besserwisser und ich etwas erwidern konnten.

Als die Tür ins Schloss fiel, waren wir beide ganz allein.

Und zwar sehr nah beinander.

Wenn man jetzt, wie in dem Film Alles-steht-Kopf,   in meinen hätte schauen können, hätte sich eine eskalierende Szene abgespielt, in der alle Emotionen wild am Kontrollhebel zerren und das totale Chaos, Rumgebrülle und die nackte Angst in der Führerkabine herrschen.

Und ich wollte alles:

Nur nicht, dass er geht und es endet...

secret flowerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt