30 - Verborgene Narben

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Der neue Tag war grau und still, der Himmel schwer mit tief hängenden Wolken, als ob selbst die Natur den Verlust, den Ayame erlitten hatte, spürte. Sie saß im Garten, auf einer schlichten Holzbank, umgeben von den blühenden Pflanzen, die ihre Mutter so geliebt hatte. Die Luft roch nach feuchter Erde und Blüten, doch diese Vertrautheit konnte ihr keinen Trost spenden. Die Erinnerungen an die gestrige Beerdigung waren noch frisch, ein schmerzhaftes Echo, das sich hartnäckig in ihrem Geist hielt und nicht weichen wollte. Die drückende Stille schien wie ein Spiegelbild ihrer eigenen inneren Leere zu sein, und das Gewicht des Abschieds lastete schwer auf ihrer Brust.

Ayame schloss die Augen und atmete tief ein, ließ die kühle Morgenluft in ihre Lungen strömen, als könnte sie darin die Präsenz ihrer Mutter erahnen. Doch der Frieden, den sie suchte, blieb unerreichbar, als sich ein leises, vertrautes Flüstern in ihren Gedanken regte.

„Nun, so sitzt du hier, als ob das Erbe deiner Mutter auf deinen Schultern lastet," raunte Sukuna spöttisch, seine Stimme so leise und durchdringend wie der Wind, der durch die Äste des Gartens strich. „Glaubst du wirklich, dass dieses armselige Trauerspiel etwas ändern wird? Solche schwachen, erbärmlichen Rituale für noch schwächere Menschen."

Ayame öffnete die Augen, und ihr Blick verhärtete sich, während sie auf das raschelnde Laub starrte. „Du kannst es nicht verstehen," antwortete sie leise und biss die Zähne zusammen. „Du verstehst nichts von dem, was ich fühle."

„Ach?" Sein Flüstern schnitt wie eine Klinge durch die Stille, verächtlich und hämisch zugleich. „Und du meinst, deine Trauer sei mehr als bloß ein Ausdruck deiner eigenen Ohnmacht? Euer aller Schwäche ist geradezu greifbar." Ein bösartiges Lachen vibrierte in der Luft, fast wie ein Echo in ihrem Kopf. „Aber keine Sorge, früher oder später wirst du verstehen, was Schwäche wirklich bedeutet - und dass nur ich dich davon befreien kann."

Ayame schüttelte unwillkürlich den Kopf, als versuchte sie, das schleichende Gift seiner Worte aus ihrem Geist zu verbannen. „Ich brauche dich nicht," murmelte sie, die Worte kaum hörbar. Doch sie spürte die Kälte seines Spottes, als ob er ihre Gedanken durchdrungen hätte.

„Oh, das wirst du schon noch begreifen," flüsterte Sukuna mit einer dunklen Befriedigung, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Menschen sind schwach, Ayame. Es liegt in ihrer Natur. Sie klammern sich an nichts als Illusionen und Hohlheit. Schau dich doch an, wie du dich an die Schatten klammerst, die deine Mutter hinterlassen hat. Armselig und sinnlos."

Sein Flüstern ebbte ab, und Ayame schloss die Augen, versuchte, die unheimliche Kälte aus ihrem Inneren zu vertreiben, die er zurückgelassen hatte. Doch als sie sich gerade wieder zu sammeln begann, vernahm sie hinter sich das Geräusch von Schritten. Sie drehte sich um und sah ihren Vater, der auf sie zukam. Für einen kurzen Moment hielt er inne und betrachtete sie schweigend, als wolle er ihre innere Verfassung abschätzen. Doch er stellte keine Fragen, ließ keine Neugier oder Besorgnis erkennen. Er trat näher, und mit seiner gewohnten, kontrollierten Stimme sagte er:

„Ayame, komm mit mir. Es gibt etwas, das ich dir zeigen möchte."

Ayame nickte, erhob sich von der Bank und folgte ihm. Während sie die Stufen hinaufstiegen und den schmalen Korridor entlanggingen, lag eine fast feierliche Stille zwischen ihnen. Die Luft fühlte sich dichter an, und sie spürte, wie ihr Puls schneller schlug, obwohl sie sich bemühte, ruhig zu bleiben. Schließlich erreichten sie das Dojo, und ihr Vater hielt vor einer großen, kunstvoll verzierten Holzkiste an. Mit bedächtigen Bewegungen hob er den Deckel, und Ayame spähte in das Innere. In der Kiste lag ein Bogen - lang, elegant und mit filigranen Mustern verziert, die die Geschichte ihrer Ahnen zu erzählen schienen.

„Dieser Bogen gehört dir," sagte ihr Vater ruhig, ohne seine Haltung zu verändern. „Es ist an der Zeit, dass du ihn führst und mit Ehre trägst."

Fluch der Vergangenheit [JJK FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt