Kapitel 15: Irminsul

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Hokusai konnte die Lichtung spüren, bevor er sie sah. Es fühlte sich an, als würde die Luft wärmer werden, als würden die Vögel fröhlicher zwitschern. Die Bäume öffneten sich und offenbarte etwas, das man wohl gut und gerne das Herz des Waldes nennen konnte.
In der Mitte der meterweiten, freien Fläche war ein großer Hügel, der oben zu einer großen, viereckigen Plattform abflachte. Oben auf diesem Hügel lag ein kleiner Teich, direkt vor einem gigantischen Baum. Das Gehölz war schier gewaltig, die untersten Äste begannen gut sieben Meter über dem Boden und die Wurzeln schienen so massiv, als würde eine Axt an ihnen zerbrechen, wäre jemand so taktlos und wollte dieses Naturwunder vernichten. Um den Baum herum flogen haufenweise kleine Glühwürmchen und ließen ihn aussehen wie einen mehr als heiligen Ort.
Ehrfurchtsvoll umstreiften sie den Hügel einmal, bevor sie vorsichtig auf ihn kletterten. Dabei fiel Hokusai auf, dass manche der Wurzelausläufe, die sich auf der Seite durch die Erde der Erhebung gestoßen hatten, orange verfärbt hatten. Und es war zweifellos jenes Orange, das auch in den Augen der vom Chaos verzehrten Tiere brannte. Einer Idee nachgehend rief der Drachling seine Waage herbei und besah sich das Gelichgewicht dieses Ortes.
Es war eindeutig völlig durcheinander, doch im Gegensatz zu den meisten anderen Orten in diesem Wald, schien hier etwas aktiv gegen den Einfluss des Bösen zu arbeiten. Er war unbestreitbar da, aber er breitete sich nicht ungehindert aus. Kyvn sah auf die Waage und dann auf Hokusai, der ihm seinen Eindruck beschrieb. Der Dämonenjäger nickte ernst und legte, zunächst zögerlich aber doch bestimmt, seine Hand auf den großen Stamm des Baumes. Er schloss die Augen und Hokusai bemerkte, dass die Glühwürmchen schneller und aufgeregter um den Stamm herumflogen als vorher. Der ganze Baum selbst schien fast lebendig zu werden bei Kyvns Berührung.
Plötzlich riss der junge Mann seine Augen wieder auf und machte schnell zwei Schritte zurück, die Hand am Schwertgriff. Den Grund dafür sah auch Hokusai, als er aus dem Baum geklettert kam. Hinter ihm sog Hiro scharf die Luft ein und nahm seinen Korb wieder auf, den er währenddessen bereits neben den See gestellt hatte.
Die Spinne klackte mit ihren Beinen, als sie den Boden erreichte und die Dreiergruppe beäugte. "Ah, seid gegrüßt", sagte Hokusai höflich und versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Die Spinne, auf deren Schultern nun wieder ein Ziegenkopf saß, zischte zur Begrüßung. "Ihr habt mich also gefunden. Was wollt ihr? Habt ihr euch die Bedingung für unseren Deal ausgesucht?" Die Augen der Kreatur huschten noch einmal über ihre Gruppe. "Und wo ist eure kleine Freundin?" Hiro räusperte sich und trat unerwartet vor. "Cel ist gerade nicht hier, sie ist noch im Fischerdorf. Wir wollten eigentlich nicht viel, lediglich ein kleines Picknick veranstalten, wenn das hier in Ordnung ist. Das sieht mir wie ein idealer Ort dafür aus." Die Spinne stand für ein paar Sekunden still und Hokusai hatte den Eindruck, Hiro hatte sie tatsächlich verwirrt. "Picknick?", fragte sie und schien den unbekannten Begriff abzuschmecken. Kyvn schien den Moment der Irritation für sich nutzen zu wollen, da er ohne große Unschweife und eine Spur zu laut eine Frage stellte. "Was ist eigentlich in der Metallkiste bei den Dodos?" Die Spinne zuckte kurz zusammen, doch leider sie verplapperte sich nicht. Scharf blickte sie Kyvn an und zischte. "Das geht euch nichts an!" Kyvns Unterkiefer spannte sich an, als sich der Ton der Kreatur vor ihnen veränderte. "Natürlich kann ich es euch verraten - wenn ihr mir dafür eure Macht gebt!" Die altbekannte Gier kehrte zurück in die Augen der Spinne und Hokusai stellte sich, mangels Celestes sonst so positiven Einfluss, neben Kyvn, um ihn von Dummheiten abzuhalten. Doch an einen Angriff schien dieser gar nicht zu denken. Ob es Nachwirkungen des Ausbruchs jugendlicher Freude von heute morgen waren oder einem anderen Umstand geschuldet war, er schien seinen Groll und seine Drohgebärden herunterzuschlucken.
Stattdessen wandte er sich einer anderen Frage zu. "Was ist eigentlich mit diesem Baum los?", fragte er und die Spinne drehte sich etwas, um einen Blick darauf zu werfen. Dann sah sie schweigend auf Kyvn herab und zischte leise. "Die Wurzeln dieses Baumes scheinen die Farbe des Chaos angenommen zu haben und als ich gerade meine Energie mit der des Baumes verband spürte ich, dass dort etwas war, was diese Energie... angreift." Die Spinne legte den Kopf schief und sah den Stamm noch einmal an. "Der Baum kann nicht korrumpiert sein. Er ist das Herz des Waldes, ich bin das Herz des Waldes. Wir sind Irminsul, wir beschützen diesen Wald. Das Chaos kann diesen Baum nicht befallen haben."
Die Spinne klang ungewohnt sachlich, ruhig und leise. Es schien Hokusai fast, als würde diese Kreatur eher mit sich selbst reden als mit ihnen. "Aber die Wurzeln, sie sind orange", sagte er vorsichtig und der Blick der Spinne richtete sich auf den Boden des Hügels. Zwei Sekunden lang geschah nichts, dann brach die Erde auf und eine einzelne, riesige Wurzel reckte sich empor. Sie war fast vollständig orange verfärbt. Die Spinne blickte auf das befallene Holz und ihr Ziegenkopf begann kurz zu verschwimmen. Für einen Moment schien die Kreatur vor ihnen vollständig zu erstarren, dann verfestigte sich der Ziegenkopf wieder und die Wurzel verschwand im Boden. Die Erde schloss sich darüber und es sah so aus, als wäre die Erde nie aufgebrochen gewesen.
Die acht Augen der Kreatur richteten sich wieder auf ihre Gruppe und die Spinne begann erneut zu Zischen. "Das Chaos kann mich nicht besiegen, ich bin zu stark für ihn! Dieser Baum wird niemals korrumpiert werden. Wie ihr sehen könnt." Hokusai realisierte ein winziges Zittern in der Stimme des Wesens vor ihm und in den Augen von Kyvn sah er zum ersten Mal etwas, das er dort vorher noch nie erblickt hatte. Mitleid. Sanft nickte der Dämonenjäger. "Natürlich, Ihr habt recht. Verzeiht, dass wir Euch gestört haben, Irminsul." Bei der Erwähnung seines Namens richteten sich alle Augen auf Kyvn, dann drehte sich die Spinne wortlos um und verschwand wieder im Geäst des Baumes.

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