Kalte Fingerspitzen berühren ihre Wange, als Tarek ihr vorsichtig die Augenbinde überzieht. „Komm, jetzt, du musst essen", flüstert er ihr ins Ohr, seine Stimme so sanft, dass Rosi für einen Moment fast vergessen könnte, was er ihr antut. Sie spürt seine Hand, die fest ihre Finger umschließt, und lässt sich widerwillig durch das Haus führen. Sie weiß, dass jeder Schritt ein Balanceakt ist, Rosalin muss stark wirken, darf keine Schwäche zeigen, und vor allem darf er nicht merken, was sie in ihrem Shirt versteckt hält. Ihre Gedanken halten inne, während sie versucht, jeden Schritt bewusst zu setzen. (Bloß nicht stoßen, bloß nicht stolpern, sonst will er mich wieder tragen, ) mahnt sie sich. Doch kaum hat dieser Gedanke ihren Verstand durchzogen, passiert es. Sie stößt mit dem kleinen Zeh gegen etwas Hartes. Ein stechender Schmerz schießt durch ihren Fuß, und sie beißt die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Ihr Atem stockt, und für einen Moment ist es, als würde die Welt um sie herum verschwimmen. Aber sie zwingt sich, weiterzugehen, als sei nichts geschehen. „Alles okay?", fragt Tarek, seine Stimme jetzt besorgt. Ihr Herz beginnt schneller zu schlagen. (Bleib ruhig, Rosi, bleib ruhig,) fleht sie innerlich und nickt leicht. „Soll ich dich tragen?" Seine Frage lässt Rosalins Magen zusammenziehen. Wenn er sie hochhebt, wird er das Buch unter ihrer Kleidung bemerken. Sie nickt schnell verneinend, ihre Gedanken überschlagen sich. „Bist du sicher?", murmelt er und streicht ihr sanft über die Haare. „Es scheint zu bluten." Rosalins Atem stockt, und sie spürt, wie er sich hinhockt, um ihren Fuß zu inspizieren. Schnell murmelt sie: „Ja, alles gut, das ist nicht mein Blut, Ich laufe doch so wenig, und wenn ich mich nicht bewege, werden meine Knochen spröde. Du weißt schon." Tarek hält inne, atmet tief durch, und für einen schrecklichen Moment glaubt Rosalin, er würde sie durchschauen. Doch dann zuckt er mit den Schultern und sagt: „Okay, aber beim nächsten Mal trage ich dich." Er stupst sie spielerisch auf die Nase und drückt ihr einen Kuss auf die Stirn. (Ein Glück, dass er Angstschweiß nicht schmecken kann,) denkt sie, während ihr ein Stein vom Herzen fällt. Im Zimmer angekommen, nimmt sie vorsichtig die Augenbinde ab. Vor ihr, auf DEM Tisch, steht eine große Pizza und daneben eine Flasche Cola. „Hast du dir verdient", flüstert Tarek fast schon liebevoll und verlässt den Raum, die Tür leise hinter sich schließend. Sobald er weg ist, reißt Rosalin das Buch hastig aus ihrem Shirt und versteckt es unter der Decke. Ihr Herz rast immer noch, aber sie weiß, dass sie keine Zeit verlieren darf. Sie setzt sich schnell an den Tisch und starrt auf die Pizza. (Erstmal was essen,) denkt sie, während sie sich ein Stück in den Mund stopft und hastig kaut. Doch ihre Gedanken sind längst nicht bei der Nahrung. Sie zieht ihre Socken aus und betrachtet ihren kleinen Zeh. Der Nagel ist zur Hälfte abgerissen, und es blutet stark. Der Schmerz pocht in ihrem ganzen Körper. Sie seufzt leise. (Ich hatte gehofft, ein Messer zu haben, um den Nagel abzuschneiden,). Doch Tarek hat diesmal kein Besteck bereitgelegt. Also bleibt ihr nichts anderes übrig, als den Nagel abzureißen. Langsam steckt sie ihren Pulli in den Mund, atmet tief ein und packt den Nagel mit ihren Fingern. Mit einem Ruck reißt sie ihn ab. Der Schmerz ist unerträglich, und obwohl sie versucht, stark zu bleiben, entweicht ihr ein kleiner Schrei. Tränen schießen ihr in die Augen, und das Blut strömt jetzt noch stärker. Sie versucht, die Wunde mit einem Stück ihrer Kleidung zu drücken, zumindest, solange, bis es nicht mehr so stark blutet, als plötzlich Tareks Stimme hinter ihr erklingt „Brauchst du jetzt Hilfe?" Rosalin zuckt zusammen, ihre Gedanken wirbeln durcheinander. (Wie lange steht er schon da? Hat er etwas gesehen?) Ihr Herz pocht so laut, dass es ihr vorkommt, als würde es jeden Moment explodieren. Langsam dreht sie sich um und sieht, wie er auf sie zukommt. „Du hast mich angelogen, Rosalin. „Ich hasse Lügner", zischt er, während er ihre Schulter packt. Seine Augen sind kalt, und in seinem Blick liegt eine gefährliche Wut. „Das sieht schlimm aus", murmelt er, als er ihren blutenden Fuß betrachtet. Tränen laufen über Rosalins Wangen, und sie schluchzt leise „Ich habe es erst am Tisch bemerkt. Es tut mir leid." Tarek setzt sich vor sie hin und schüttelt den Kopf. „Warum hast du mich nicht gerufen? Du weißt doch, dass überall Kameras hängen." Seine Stimme ist jetzt sanfter, aber immer noch bedrohlich. Er deutet auf eine der Kameras an der Wand. „Du sagtest doch, dass du sie nicht nutzt", murmelt Rosi. Tarek lacht kurz, ein kaltes, hartes Lachen. „Du bist sehr naiv, kleines Mäuschen." Er sprüht Desinfektionsmittel auf die Wunde, und Rosalin zuckt vor Schmerz zusammen. Dann verbindet er den Fuß und steht auf. „Ich verzeihe dir, solange du mir das gibst, was du versteckt hast." (Er weiß es!) Ihre Augen weiten sich vor Angst, und sie spürt, wie Panik in ihr aufsteigt. „Gib es mir freiwillig, oder die Strafe wird fürchterlich", droht er, während er sie mit eiskalten Augen ansieht. Rosalin schluckt schwer. Ihr Blick wandert zum Boden, während sie versucht, ihre aufsteigende Verzweiflung zu unterdrücken. Langsam steht sie auf und humpelt zum Bett. Sie holt das Buch hervor und reicht es ihm mit zitternden Händen. „Ich habe es gefunden. Hier gibt es nichts zu lesen, und ich dachte ..." Doch bevor sie den Satz beenden kann, unterbricht er sie zischen „Was ist mit dem Fernseher?" Sie nickt stumm und murmelt „Tut mir leid." Tarek schnappt sich das Buch und geht Richtung Tür. „Verarsch mich nicht, Rosalin. Du weißt, was sonst passiert." Mit diesen Worten verlässt er den Raum, und sie bleibt allein zurück. Die Stille drückt auf sie ein wie eine tonnenschwere Last. (Ich werde hier nie entkommen, ) denkt sie verzweifelt. Tränen strömen unaufhörlich über ihr Gesicht, während sie leise vor sich hin weint. (Alles um sonst, ich hatte meine Chance und jetzt ist sie weg.)
DU LIEST GERADE
Shut Up
Mystery / ThrillerRosalin, kurz Rosi genannt, führt ein gewöhnliches Teenagerleben, das aus Freundschaften, Partys und der Schule besteht. Eines Tages auf dem Weg zur Abschlussfeier wird das Auto, in dem sie mit ihren Freunden sitzt, von der Straße gedrängt, und Rosi...