Chapter 38

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Es war der gleiche kleine Beistelltisch, auf dem Sarah sich damals einen Whiskey eingeschenkt hatte, von dem sie nun zwei Weingläser und eine dunkelgrüne Flasche nahm und zwischen uns auf den Couchtisch stellte. Die Gläser erzeugten ein helles Klirren und die dunkelrote Farbe des Weins wirkte im dämmrigen Licht des Büros beinahe schwarz. Die Stehlampe neben dem Bücherregal erzeugte eine warmes, dezentes Licht, das unsere Gesichter erhellte, während wir unsere Blicke schweigend aus dem großen Panoramafenster gleiten ließen. Die verzerrte Reflexion des Lichtkegels erzeugte ein schummeriges Abbild der Szene. Draußen war es stockfinster, die altertümlichen Laternen auf dem Parkgelände reihten sich aneinander wie die Leuchtsignale einer Flugzeuglandebahn. Sarahs Pumps fielen dumpf auf den Teppichboden, als sie ihre Füße heranzog und sich im Schneidersitz in dem Sessel neben mir niederließ. Ich atmete tief ein und ließ meinen Kopf gegen die Lehne fallen. Ich war erschöpft, die letzten Tage hatte ich in der Bibliothek verbracht. Die Prüfungsvorbereitung war mühselig, ich hatte das Gefühl, dass mir vor lauter Theorien der Kopf brummte. Die einzigen Lichtblicke waren die Momente mit Sarah, die Abende, an denen wir gemeinsam gekocht und gegessen hatten, die Nächte, in denen wir uns ein Bett geteilt hatten und die Morgen, an denen wir gemeinsam aufgewacht waren. Dieses Hochgefühl, dass ich seit dem Summit permanent empfand, wenn ich auch nur an sie dachte, war einer ernsteren Emotion gewichen, einer konstanteren Anziehung. Liebe? Das Leder meines Sessels knarrte, als ich mich vorbeugte und mein Weinglas in die Hand nahm.

"Ich habe das Gefühl, wir trinken zu viel", sagte ich und nahm einen Schluck von dem Wein. Er schmeckte fruchtig und ich mochte ihn, auch wenn es kein Point Noir war, den wir seit unserem Date im "Le Jardin Éclectique" eigentlich ausschließlich tranken. Ich umwickelte eine Haarsträhne mit meinem Zeigefinger und dachte darüber nach, wie wegweisend die kommenden Tage sein würden. Für den Fall, dass ich die Prüfung nicht bestehen sollte, hatte ich keinen Plan B, keine Alternative. Ich musste bestehen. Es gab keine andere Wahl.

"Ich habe auch Tee da, wenn du möchtest", erwiderte Sarah und der ruhige Klang ihrer Stimme erfüllte meine Brust mit Wärme. Ich fühlte mich geborgen. Es war selten, dass wir in der Uni Zeit für uns hatten. Meistens war Sarah in Vorlesungen, ich musste mich in den letzten Tagen gesondert auf die Prüfung vorbereiten und wenn wir ein paar Momente für uns hatten, liefen wir Gefahr, jeder Zeit von Emma oder einem anderen Teammitglied gestört zu werden. Seit dem Summit verstanden Emma und ich uns besser, auch wenn ich immer noch das Gefühl hatte, dass sie eine gewisse Eifersucht mir gegenüber empfand. Es war der gemeinsame Moment der Euphorie nach Sarahs Rede auf dem Summit, der uns verbunden und näher gebracht hatte.

"Hast du noch mal etwas von diesem Typen gehört?", Sarah lehnte sich zurück und ließ den Wein in ihrem Glas kreisen. Der schwarz-weiß gestreifte Pullover, den sie trug, verschluckte das Licht der Lampe. Seit unserem Spaziergang in New York hatten wir nicht mehr über Pete gesprochen.

"Pete?", ich schüttelte nachdenklich den Kopf. "Nein, nichts." Es fühlte sich surreal an, darüber nachzudenken, dass wir einmal so viel Zeit miteinander verbracht hatten und jetzt nicht mal mehr miteinander sprachen. Zuhause lagen noch einige Sachen von ihm herum, Klamotten, Handtücher und ein paar andere nutzlose Gegenstände, die er über die Zeit mitgebracht und vergessen hatte. Ich hatte sie bereits in eine Kiste gepackt. Sie hatten mich nicht wirklich gestört, aber irgendetwas in mir verlangte danach, mit ihm abzuschließen. Auf allen Ebenen. Irgendwann würde ich auf ihn zugehen müssen und ihn darum bitten, seine Sachen abzuholen. Ein befremdliches Gefühl stieg in mir auf und ich hielt für ein paar Sekunden inne, den Blick auf die Lichtkegel der Laternen gerichtet.

"Glaubst du, ich bestehe die Prüfung?", ein wissendes Lächeln lag auf Sarahs Lippen, als ich fragend zu ihr aufblickte. Die Situation erinnerte mich an das Gespräch mit Pete auf der Parkbank. Er hatte mir überhaupt nicht zugehört, als ich meine Sorge, möglicherweise durch die Vorprüfung gefallen zu sein, mit ihm teilte. Ich erinnere mich genau an seinen genervten Blick, als ich ihm meinen Ellbogen in die Rippen gehauen hatte, damit er mir endlich zuhörte. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie reibungslos ich mit Sarah kommunizierte. Es passierte so gut wie nie, dass wir einander missverstanden. Ich fühlte mich von ihr gesehen, die Aufmerksamkeit, die sie mir schenkte fühlte sich so unverdient an, dass ich nicht wusste, wie ich ihr gerecht werden könnte.

"Natürlich bestehst du die Prüfung", erwiderte sie, ohne eine Sekunde zu zögern. In ihrer Stimme lag eine Sicherheit, der ich Glauben schenkte, auch wenn sie nicht meiner eigenen Überzeugung entsprach. Ich hatte Respekt vor dieser Prüfung, vor diesem Fach. Seit den letzten Wochen wurde mir immer bewusster, weshalb ich eigentlich an dieser Uni war, weshalb dieser Studiengang der Richtige für mich war. Es war nicht Pete, der mich dazu bewegt hatte, weiter zu machen, es war nicht mein Ehrgeiz, der mich zwang, die Zähne zusammen zu beißen und es war auch nicht Sarah, für die ich hier war, auch wenn sie sicherlich einen großen Anteil daran trug. Tief in mir spürte ich, dass ich hier war, weil es mein Weg war. Seit ich Sarah begegnet war, wurde mir Schritt für Schritt klarer, dass es kein Zufall gewesen sein konnte, dass in an dieser Uni gelandet war. Dass es kein Zufall gewesen sein konnte, dass wir uns in der Bibliothek geküsst hatten, dass es kein Zufall gewesen sein konnte, dass ich durch die Vorprüfung gefallen war und dass es kein Zufall sein würde, wenn ich die anstehende Prüfung bestand. Sarahs Worte auf dem Summit, die Inbrunst, mit der sie über die Verpflichtung gegenüber der Wissenschaft gesprochen hatte, über die Widerstandsfähigkeit gegenüber der Dunkelheit, die ein ständiger Begleiter ihres Werdegangs war, hatten etwas in mir ausgelöst, einen Denkprozess, der sich befreiend anfühlte. Ich empfand diese Leidenschaft, sie war wie ein Band, dass alle Menschen, denen ich hier begegnen durfte, vereinte. Ein auftreibendes Gefühl der Überlegenheit erklomm meine Kehle und ich fühlte mich, als könnte ich alles schaffen. Sarah sah mich schweigend an, als würde sie in mir lesen können, ohne dass ich auch nur ein Wort sagen musste. Das Funkeln in ihren Augen war ansteckend. In der Reflexion der Fensterscheibe spiegelten sich unsere Schatten.

"Ich bin damals auch durch die Vorprüfung gefallen", sagte sie und mein Blick ruhte auf ihr. Im dämmrigen Licht der Nacht war ich mir nicht sicher, ob sie real war, oder doch nur ein Produkt meiner Phantasie, zu perfekt, um tatsächlich zu existieren. Ein amüsierten Schmunzeln trat auf ihr Gesicht, als sie die Überraschung in meinem Blick erkannte.

"Echt? Das kann ich mir kaum vorstellen", erwiderte ich ungläubig. Eine Strähne fiel über meine Schulter und strich über meine Handfläche. Der Wein glitzerte.

"Doch, so war es", sie lächelte in Gedanken versunken und schien für einen Moment an einem ganz anderen Ort. "Ich war damals mit den Gedanken ganz woanders", sie schüttelte den Kopf und ihre kinnlangen Haare fielen sanft über ihr Ohr.

"Ich dachte, du warst die Musterstudentin", lachte ich leise und sah die junge Sarah vor meinem inneren Auge. Intelligent, leidenschaftlich und wunderschön. Eigentlich genau wie jetzt. Gespannt wartete ich auf ihren Einspruch, aber sie schwieg.

"Ich fühle mich immer so alt, wenn ich daran denke, dass es schon eine Ewigkeit her ist, dass ich in deiner Situation war", sie fuhr sich mit der Hand über ihre Stirn. Ihre Lippen glänzten vom Rotwein und ihre Augen wirkten müde.

"Hey", sanft strich meine Stimme durch den Raum und schien die physische Distanz zwischen uns zu minimieren. In diesem Moment wusste ich, dass ich die Prüfung bestehen würde. Nicht, weil ich perfekt vorbereitet war, sondern weil sie nicht länger von tiefgreifender Bedeutung sein würde, sobald sie vorbei war. Sie war nur eine Station auf meinem Weg, ein Etappenziel, dass verblasste, sobald man es erreicht hatte. Das zwischen mir und Sarah war mehr als das. Es war der Weg, den wir teilten, die Luft die wir atmeten. In diesem Moment spürte ich, wie viel sie mir bedeutete.

"Wir schaffen das", flüsterte ich und hob mein Weinglas. Dunkel webte die Flüssigkeit am dünnen Bauch auf und ab, ein leises Klirren ertönte, als unsere Gläser sich berührten. Ich schluckte. Dieser Moment war besonders. Ich sah meine Reflexion in Sarahs Augen, diese dunkelbraunen, lieblichen Augen, deren Funkeln mich verzauberte, sobald ich mich erst in ihnen verloren hatte. 

Failing the examWo Geschichten leben. Entdecke jetzt