Chapter 35

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Emmas Worte schwebten wie unzusammenhängende Wolkenfetzen im Hohlraum des Aufzuges, dessen Türen sich mit einem altertümlichen Klingeln öffneten. Es war 7:28 und mein Kopf fühlte sich an, wie mit Watte gefüllt. Ich hatte schlecht geschlafen. Nicht nur, weil ich mir ein Bett mit Emma teilen musste und unter der permanenten Angst gelitten hatte, dass sie mir im Schlaf ihre Arme ins Gesicht schlug, sondern auch, weil ich versucht hatte, diese Verlustängste, die seit dem letzten Aufeinandertreffen mit Sarah in mir aufkeimten, zu verstehen. Es war eigentlich nicht der richtige Zeitpunkt, schon wieder eine Baustelle in unserer Beziehung zu eröffnen, aber ich wusste nicht, wie ich mit meinen Gefühlen umgehen sollte. Ähnlich wie bei unserer letzten Auseinandersetzung schämte ich mich für meine Inkompetenz, nicht wirklich zu wissen, was überhaupt los war. Hatte ich Angst, Sarah zu verlieren? Sicherlich. Hatte ich Angst vor der Prüfung? Natürlich. Fühlte ich mich schlecht vorbereitet? Und wie. Hatte ich mit Pete abgeschlossen? Hoffentlich. All diese Fragen schwirrten mir durch den Kopf und verdichteten sich zu einem Schwarm, der mir meinen Schlaf geraubt hatte. Ich wünschte, die Beziehung zwischen mir und Sarah wäre eine feste, eine offene, dann könnte ich mich wenigsten auf dieser Seite in Sicherheit wiegen. So fühlte es sich an, als würde ich mit beiden Beinen auf Stelzen laufen und verzweifelt nach einem festen Stand suchen. Ich folgte Emma durch die Lobby und versuchte, mich aus dem Spinnennetz meiner verwobenen Gedanken zu befreien. Draußen schien die Sonne. Seit Emma um Punkt 6:00 die roten Vorhänge unseres Hotelzimmers aufgerissen hatte, blendeten mich ihre Strahlen. Vor dem Eingang des Hotels eilten Menschen vorbei, zur Arbeit, zur U-Bahn, sie wirkten wie Statisten eines Hollywoodfilms. Keiner würdigte den anderen eines Blickes und ich fragte mich, wie bei einer solchen Masse an Passanten kein Verkehrschaos entstehen konnte. Mit jedem Aufschwingen der Glastüren, durch die Hotelgäste und Angestellte traten, schwappte der Kanon der Großstadt, Stimmengewirr, Reifenquietschen, Hupen und das Klappern von Schuhen auf Asphalt zu uns hinein. Ich hatte mich noch immer nicht ganz an die pompöse Einrichtung gewöhnt und mein Blick verlor sich erneut in der hohen, gotischen Decke, von der schwere, goldene Kronleuchter hingen. Emma eilte mit entschlossenen Schritten an der Rezeption vorbei. Ihr rundlicher Körper schlängelte sich geschickt an den Leuten vorbei, ihr Zopf wippte auf und ab und diente mir als Orientierung, um sie im Gedränge nicht zu verlieren. Wir durchquerten die Schlange, die sich bereits vor der Rezeption gebildet hatte und betraten einen Nebenraum, der das Gegenstück zu der überfüllten Empfangshalle bildete: an kleinen, mit weißer Tischdecke und minimalistischem Besteck eingedeckten Tischen saßen wichtig aussehende Leute und frühstückten. Ihre frischen und jungen Gesichter sorgten dafür, dass ich mich alt fühlte. Kellner mit schwarzer Fliege und weißen Handschuhe balancierten Kaffeetassen und Teebecher auf ihren Tabletts und ich fühlte mich fehl am Platz. Meine blonden Haare hatte ich zu einem strengen Knoten nach hinten gebunden, in der Hoffnung, wenigsten äußerlich aufgeräumt auszusehen. Zu meinem eng anliegenden, marineblauen Rollkragenpullover trug ich eine cremefarbene, weite Chinohose, die meine schlichten Stilettos betonte. Meine goldenen Ohrringe klimperten bei jedem Schritt und ich schlängelte mich hinter Emma durch die Tischreihen. Zielstrebig steuerte sie auf einen bestimmten Tisch zu und während ich noch damit beschäftigt war, im Vorbeigehen keine Tischdecken herunterzureißen, ließ sich Emma bereits auf ihren Sitzplatz neben Sarah fallen.

"Guten Morgen, Ms. Paulson", flötete sie und blinzelte fröhlich in Sarahs Richtung. Sarah saß zurückgelehnt an einem der Tische, auf ihren elegant übereinandergeschlagenen Beinen ruhte die neuste Ausgabe der New York Times und ihr prüfender Blick über den Rand ihrer Lesebrille verriet mir, dass sie mir meine innere Unruhe direkt anmerkte. Ein warmes Lächeln huschte über ihre Lippen und ihre Augen glitten für ein paar Sekunden von meinem Gesicht über meinen Körper, bevor sie sich zu Emma wandte und ebenfalls einen guten Morgen wünschte. Verlegen setzte ich mich auf den letzten freien Platz gegenüber von ihr. Es war ein wenig eng und die vielen Menschen im Frühstückssaal erzeugten eine Atmosphäre, in der ich mich beobachtet fühlte. Sarah faltete ihre Zeitung zusammen und schob den Teller von sich, von dem sie anscheinend schon gefrühstückt hatte. Im Gegensatz zu mir wirkte sie ausgeschlafen und frisch, ihr Makeup ließ sie jünger aussehen.

Failing the examWo Geschichten leben. Entdecke jetzt