>>Zehn<<

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,,Ja, hier ist Harry. Mit wem spreche ich?'', entgegnete er.

Erleichtert atmete ich aus. Es war so schön, seine Stimme zu hören nach dieser schlimmen Zeit. Trotzdem ignorierte ich seine Frage.

,,Ich werde gefangen gehalten von einem Verrückten. Ich bin auf einem alten Fabrikgelände, vorher waren wir in einem kleinen Theater auf einer Art Jahrmarkt. Ich weiß nicht, wer mein Entführer ist, Harry. Er misshandelt mich, er.. er.. zwingt mich, mich wie eine Puppe anzuziehen. Er hat das schon mit fünf anderen gemacht, sie sind tot und liegen alle in seinem Kühlraum. Bitte komm und rette mich, ich will hier weg'', redete ich drauf los und begann, zu schluchzen.

,,Miss, bitte beantworten Sie meine Frage: Mit wem spreche ich?''

,,Abigail. Abigail Preston''

,,Kenne ich nicht'', gab er zurück.

,,Was? Harry, du kennst mich! Wir gingen auf die selbe Schule, wir haben uns auf einer Party geküsst!''

,,Ich kenne keine Abigail. Nur eine Darcy.''

,,Bitte nicht..'', hauchte ich.

,,Du steckst in Schwierigkeiten, Darcy. Warum kannst du denn nicht einfach artig sein?'', lachte er in den Hörer.

Ich schmiss das Telefon gegen die Wand und begann laut zu schreien, um meinen Kopf frei zu kriegen, doch es klappte nicht. Innerlich brach gerade jede Brücke, jeder Hinweis, den ich gesammelt hatte, führte definitiv auf Harry zurück.

Wie konnte er mir das antun? Wer war er überhaupt? Warum tat er das? Warum ausgerechnet Ich?

Diese Gedanken gingen immer wieder durch meinen Kopf.

Ich mochte ihn wirklich sehr, ich wollte sogar eine Beziehung mit ihm. Und er? Er hatte wahrscheinlich schon ab unserer ersten Begegnung geplant, wie und wann er mich am besten entführen konnte, und was er alles mit mir machen würde.

Ich war wütend. Wütend auf ihn, aber auch auf mich selbst. War ich wirklich so blind?

All die Beweise, die vertraute Stimme, die Bilder.. Und ich hatte erst jetzt etwas bemerkt.

Ich trat mehrere Male gegen ein großes Bücherregal, es war zwar anstrengend und ich musste dem ein oder anderen Buch ausweichen, doch ich brauchte etwas, um mich abzureagieren.

,,Darcy, mach auf'', schrie Harry und rüttelte an der Tür, die ich zum Glück vorher verbarrikadiert hatte.

,,Lass mich einfach in Ruhe, du Verrückter!'', brüllte ich zurück und wappnete mich mit einem Brieföffner.

Ich keuchte schwer und konnte kaum etwas sehen, da mein Make-up durch meine Tränen verschmiert war und der Kleber meiner falschen Wimpern sich gelöst hatte. Außerdem konnte ich meine provisorische Waffe nur schwer halten, mein Körper bebte und meine Finger waren immernoch nicht richtig funktionstüchtig.

Ich hörte, wie er sich gegen die Tür warf, und meine Barrikade rutschte immer weiter nach vorne. Nach einigen Malen konnte er die Tür bereits öffnen, ich wich zurück und begab mich in Position. Er warf sich erneut dagegen und stand dann vor mir. Ohne Maskierung.

Ich blickte Harry ins Gesicht und schluchzte laut. Er war es wirklich.

Er schmunzelte und näherte sich mir langsam. Als er vor mir stand blickten wir uns noch einmal in die Augen. Ich konnte nicht fassen, dass ich vor unbestimmter Zeit nachts von diesen Augen geträumt hatte.

Ich atmete tief durch und kniff die Augen zusammen, bevor ich ihm meinen Brieföffner in den Bauch rammte.

Er gab ein undefinierbares Geräusch von sich und sackte ein wenig zusammen, fing sich dann aber wieder und blickte mich zornig an.

,,Dafür wirst du bezahlen, Darcy'', murmelte er und schlug mich nieder.

W ä h r e n d d e s s e n ...

,,Denkst du wirklich, wir sollten das tun, Jenna?'', fragte Chloe und stieg aus ihrem dunkelblauen Range Rover.

,,Er war nicht in der Schule. Also entweder ist er krank, er schwänzt, oder er macht kranke Sachen mit Abby. Lass uns rein'', antwortete Jenna, stieg ebenfalls aus und ging zur Haustür.

Sie versuchte es erst einmal mit Klingeln, doch als auch nach einigen Minuten keine Reaktion kam, hob sie die Fußmatte und fand darunter einen Ersatzschlüssel.

,,Bingo'', murmelte sie und schloss damit die Haustür auf.

,,Ich fühle mich bei der ganzen Geschichte nicht wohl, was ist, wenn er nur eben einen Kaffee holen ist und jede Minute zurück kommt?'', flüsterte Chloe, folgte ihr aber trotzdem ins Haus.

,,Mach dir mal nicht in die Hosen, C. Wir machen das für Abby, schon vergessen?'', gab Jenna zurück, streifte sich ihre Handschuhe über und begann, einige Akten zu durchblättern.

,,Sieh dir das mal an..'', sagte Chloe nach ungefähr zehn Minuten Stille und winkte Jenna zu sich herüber. Sie hatte ein Fotoalbum in der Hand, darin waren Bilder von Harry und seiner Mutter, dieselben, die auch bei Abby hingen.

,,Seine Mutter sieht ja nicht wirklich begeistert von ihm aus'', gab Jenna zurück und wendete sich wieder ab.

,,Nicht nur das. Schau mal, Harry's Klamotten sind auf allen Bildern relativ weiblich, und auf diesem Foto ist er sogar mit Puppen abgebildet''

,,Aber Harry ist doch jetzt nicht mehr so. Abgesehen von seinen Haaren, er sieht langsam aus wie Rapunzel.''

,,Konzentrier dich, Jenna! Harry wurde bestimmt von seiner Mutter gezwungen, sich wie ein Mädchen zu kleiden und zu verhalten, schau mal wie unglücklich sie wirkt wenn er 'Jungssachen' macht. Sie hat sich sicherlich ein Mädchen gewünscht, Harry war ungewollt.''

,,Das ist aber total irrelevant für unsere Untersuchungen, außerdem sind das alles nur Vermutungen, wir brauchen handfeste Beweise.''

,,Ich weiß, suchen wir weiter'', seufzte Chloe und durchsuchte ein Regal.

,,Vielleicht doch nicht..'', sagte Jenna, die inzwischen an Harry's Laptop war. ,,Hier ist ein Artikel über seine Mutter, hier steht, dass sie sich vor drei Jahren das Leben genommen hat.''

,,Das könnte ein Auslöser gewesen sein, aber warum jetzt? Ich meine, er hätte Abby zum zwei einhalb jährigen 'Jubiläum' entführt. Das macht keinen Sinn.''

,,Dann ist Abby nicht die erste, die er entführt haben könnte. Aber wir wissen ja immernoch nicht, ob er wirklich..'', begann Jenna, stockte dann aber, als sie eine fragwürdige Website entdeckte.

darcyswonderland.com

Sie klickte darauf, und sah eine Live-Übertragung eines Geschehens. Sie kniff die Augen zusammen und beugte sich näher an den Bildschirm, um das, was dort passierte, vollständig zu begreifen:

Zu sehen war Harry in einem rosaroten Raum, und er schleifte ein Mädchen hinter sich her, welches wie eine Puppe gekleidet war. Das musste Abby sein.

,,Was zur Hölle ist das?'', fragte Chloe, die sich hinter Jenna gestellt hatte und ebenfalls auf den Bildschirm starrte.

,,Das ist Harry, auf dem Boden ist Abby. Sie regt sich nicht. Ihr muss etwas schlimmes zugestoßen sein.''

DOLLHOUSE / h.s/Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt