Der Werwolf - Teil I

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David Kesslers Schreie wurden immer tierhafter, während ihm die Wolfsschnauze aus dem Gesicht brach. Seine Gliedmaßen stauchten und streckten sich von unsichtbaren Kräften getrieben und auf seiner Haut sprossen Unmengen von Haaren. Mehr und mehr mutierte er zu einem riesigen Wolfsmonster.

Nick schaufelte sich eine Ladung Popcorn in den Mund. Die Verwandlungsszene in American Werewolf gehörte zu den coolsten, die er kannte. Aber heute vermochte selbst eines der Lieblings-B-Movies ihn nicht aufzuheitern. Er saß auf der Fernsehcouch seines Zimmers unter der Dachschräge. Den Platz auf seinem Schoß teilten sich eine Schüssel Popcorn und Schnüffkes. Der Rauhaardackel hatte mit dem Werwolf im Fernsehen ungefähr soviel gemeinsam wie Nick mit einem mutigen Mann. Doch Schnüffkes mochte den Film, soweit man das bei einem Dackel sagen konnte. Jedes Mal wenn Wolfsgeheul ertönte, heulte er mit.

Der Rest des Tages war für Nick ein Alptraum gewesen, gegen den der Horrorfilm vor ihm Kindertheater mit Fingerpuppen war. Dammrau ließ ihn ausnahmsweise in der Umkleide sitzen, weil die Erektion immer noch nicht abgeklungen war. Aber es war bereits zu spät. Auf dem Rückweg ins Klassenzimmer konnte er sich gar nicht genug in sich selbst verkriechen, um das Gekicher der Mädchen zu überhören. Natürlich hatten Sven, Marcel und Luca längst begonnen, die Geschichte rumzuerzählen. Und spätestens morgen würde es die ganze Schule wissen. Nick verbrachte die letzten drei Stunden wie im Koma. Die Rückgabe des Bio-Tests, Projektarbeit, Fragerunde, Vortrag von Kim, der Tag zog an ihm vorüber. Als er einmal drangenommen wurde, stammelte er so haltloses Zeug zusammen, dass das Gelächter augenblicklich wieder da war.

Als Kettmeyer die Tafel aufklappte, hatte jemand ausladend Penis darauf geschrieben. Darunter war ein Glied mit Hoden gemalt. Neben Penis stand in der gleichen Schrift Schrumpfpimmel. Hierunter war bloß ein Paar Eier.

Alle lachten.

Kettmeyer, war offenbar noch unwissend. Er zog die Halbglatze in nachdenkliche Falten und verdrehte die Hand im grauen Zopf. Dann erklärte er umständlich, dass es aus biologischer Sicht nicht auf die Größe ankomme.

Nick wünschte, er wäre tot.

Seinen Eltern hatte er nichts erzählt.

Besonders Papa merkte schnell, sobald etwas nicht stimmte. Daher hatte Nick sich so rasch wie möglich davongemacht, ohne Misstrauen zu wecken.Nur Schnüffkes hatte er sich anvertraut. Wenn man ihn dabei hinter den Ohren kraulte, war er ein sehr geduldiger Zuhörer.

Danach hatte Nick versucht, den Spiderman-Sammelband weiterzulesen, den er gestern begonnen hatte. Aber er konnte sich einfach nicht darauf konzentrieren. Aus lauter Verzweiflung hatte er sogar angefangen, Hausaufgaben zu machen. Doch nach einer Weile musste er das Englischbuch beiseitelegen und sich eingestehen, dass er nicht einmal ansatzweise mitbekam, was er da las.

Das Abendessen hatte er unter Mamas heftigem Protest mit aufs Zimmer genommen. Es gab gekochten Selbstekel und frittierte Scham.

Als es endlich dunkel genug geworden war, um einen anständigen Gruselfilm zu schauen, hatte Nick American Werewolf gestartet.

Und jetzt realisierte er, dass selbst einer seiner Lieblingsfilme ihn kaum erreichte.

David hatte inzwischen eingesehen, dass er ein Werwolf war. Natürlich nützte ihm das nichts, weil die letzte Verwandlung bereits eingesetzt hatte. Die Bestie zog mordend durch London, während die Polizei anrückte. Das Finale des Films hatte Nick nie sonderlich gut gefallen. Die Polizisten erschossen den Werwolf, obwohl nicht einer von ihnen eine Silberkugel hatte. Aber heute machte Nick der näher rückende Tod von David besonders wütend. Was wollten sie denn alle von ihm? Er konnte doch nichts dafür. Sie kesselten ihn in dieser Sackgasse ein, bis er überhaupt keinen Ausweg mehr hatte. Und dann gingen sie mit den Pistolen auf ihn los. Am Ende würden die Leute ganz erstaunt sein, dass ein toter Junge auf dem Boden lag.

Warum durfte der Film nicht einen coolen Abschluss haben?

David könnte sich in der Sackgasse umdrehen und die Polizisten ins Visier nehmen. Die schießen wie verrückt, obwohl sie in der Überzahl sind. Nur dass sämtliche Kugeln von Werwolf-David abprallten, weil ein echter Werwolf natürlich ohne Silber nicht zu besiegen ist. Dafür wird er wegen des Geballers aber mächtig wütend. Er rennt auf die Polizisten zu, während sein Fell alles abwehrt und die Querschläger durch die Gasse pfeifen. Und dann räumt David unter den Typen mal so richtig auf. Köpfe würden fliegen und Knochen krachend durchgebissen.

Bis endlich Ruhe war.

Nick schob sich eine neue Ladung Popcorn in den Mund und kaute darauf härter als nötig.

Der Film näherte sich jetzt tatsächlich dem Ende. Nick erwog kurz abzuschalten, um sich den unschönen Anblick zu ersparen. Aus Trägheit blieb er doch sitzen und sah weiter.

Das Unvermeidliche nahm seinen Lauf.

Die Polizei trieb David in die Gasse.

Nick grabschte wieder in die Schüssel.

Der nervöse junge Polizist schoss wie immer als Erster. Die anderen ballerten wie wild hinterher. Nick zog eine Miene, als ob jeder einzelne Schuss ihn träfe, und hob die Hand mit dem Popcorn.

Der Werwolf brüllte laut.

Die Kugeln prallten von seinem Fell ab.

Nick fiel das Popcorn runter.

Selbst Schnüffkes schien zu merken, dass etwas nicht stimmte. Statt nachdem fallenden Essen zu schnappen, hatte er den Kopf in Habachtstellung gehoben.

Monster-David griff die Polizisten an. Es wurde ein fürchterliches Gemetzel. Man hörte die Knochen krachen, während das Bild sich immer röter färbte. Es erwischte einen Gegner nach dem anderen.

Am Ende zeigte die Kamera Werwolf-David groß in Siegerpose. Es folgte der Abspann.

Nick blinzelte.

Was war denn das?

War er so durch den Wind, dass er nun schon halluzinierte? Wenn seine Fantasie ihm vorgaukelte, was er am liebsten sehen wollte, dann hätte sie das besser heute früh tun sollen. Da hatte er sich tausend Mal fortgewünscht und trotzdem alles mit ansehen müssen. Und jetzt bog sie ihm den blöden Film um.

Ach,Quatsch! Das war bloß ein Zufall. Bestimmt war das der Director'sCut gewesen. Oder irgendeine selten gezeigte Fassung. Vielleicht hatten sich noch mehr Fans beschwert und das Ende war nachträglich neu gedreht worden.

Nick war gerade so weit, das Ganze als Merkwürdigkeit abzutun, da jaulte Schnüffkes plötzlich herzzerreißend auf. Den gequälten Ton hatte Nick bisher nur ein einziges Mal von ihm gehört: vor zwei Jahren, als er ihm beim Kistenschleppen auf den Schwanz getreten war.

»Was hast du denn?« Er beugte sich vor, um dem Dackel ins Gesicht sehen zu können, da sprang Schnüffkes vom Schoß. Mit einer Geschwindigkeit, die man den kurzen Beinchen niemals zugetraut hätte, flitzte er davon. Das furchtbare Heulen verschwand die Treppe hinunter.

Plötzlich wurde es taghell. Der ganze Raum erstrahlte in gleißendem Licht.




Das ist der Anfang des zweiten Kapitels. Wie es weiter geht, erfahrt ihr schon bald!

Ich hoffe, es hat euch gefallen?


Basaltblitz - Geburt eines HeldenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt