Einer für alle, alle für Einen (oder so ähnlich).

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von NevermoreTheRaven


London, 1654


Ragnor Fell hatte einen angenehmen, ereignislosen Tag erwartet. Er war ausgeschlafen, hatte gut gefrühstückt und geplant seinen Morgen damit zu verbringen, nichts zu tun. Er schlenderte durch die Straßen Londons, in Gedanken versunken und nichtsahnend, sodass er nicht darauf achtete wohin er lief und erst bemerkte, dass die ausladendenden, reich verzierten Stadthäuser der Wohlhabenden, den schmutzigen, stinkenden Gassen derer gewichen waren, die zu arm waren, um von der Gesellschaft noch als menschliche Wesen betrachtet zu werden.

Ragnor selbst war genaugenommen ebenfalls kein menschliches Wesen. Er war weder menschlich noch sterblich, noch fühlte er sich sonst in irgendeiner Weise mit der hochnäsigen, heuchlerischen Oberschicht der Londoner Bevölkerung verbunden. Ragnor Fell war ein Hexenmeister und daher hatte er gestern beschlossen, auf die Meinung seines adligen Arbeitgebers zu pfeifen und lieber seine Tage mit angenehmeren Dingen zu füllen, als damit Dämonen für die bevorstehende Ermordung eines stinkreichen Verwandten heraufzubeschwören.

Somit war das ordentliche Kopfsteinpflaster unter seinen Füßen einer schlammigen Gasse voller Abfälle gewichen, er war arbeitslos und zufrieden. Oder wäre zufrieden gewesen, wenn dieses Kind nicht wie am Spieß geschrien hätte.

Er bog um die Ecke, bückte sich unter einer triefenden Wäscheleine durch, die quer zwischen zwei halbzerfallenen Fachwerkhäusern gespannt war und erblickte eine junge Frau mit tiefblauer Haut, aus deren Fingerspitzen goldene Funken sprühten. Hinter ihrem Rock verbarg sich ein kleines Mädchen, dessen Mund zu einem mittlerweile stummen Schrei aufgerissen war und das panisch auf den etwa drei Meter großen Dämon starrte, der sich ihnen gegenüber aufbäumte. Schleim triefte von seinem riesigen, mit einer doppelten Reihe nadelspitzer Zähne besetztem, Maul. Graue, schuppige Haut bedeckte seinen seltsam verdrehten Körper und ...
Ragnor warf sich zu Boden, als der mit tödlichen Stacheln verzierte Schwanz des Dämons in seine Richtung peitschte. Ein wahres Prachtexemplar von Monster, regelrecht putzig.

Der Hexenmeister erhob sich mit so viel Würde, wie sein schlammiges Äußeres und seine leichte Panik zuließen. Ihm fiel auf, dass der Dämon ihn nur nicht getroffen hatte, weil die junge Frau ihn zur selben Zeit erneut attackiert hatte.

Er hob seine Hände, fauchte zwei sehr kurze und sehr wirksame Worte in einer fremden Sprache (die keinerlei magische Wirkung beinhalteten, sondern lediglich seine massiv verschlechterte Laune zum Ausdruck brachten) und schickte einen Zauber in Richtung des Dämonen, der diesen aus dem Gleichgewicht brachte. Die junge Frau blickte überrascht auf, scheinbar hatte sie seinen, zugegebenermaßen nicht sehr eleganten, Auftritt verpasst. Durch diesen kurzen Moment des Zögerns, hatte der Dämon Zeit sich wieder zu fangen und brüllte vor Wut. Zumindest nahm Ragnor das an, irgendwie hatte er das wage Gefühl, das er ausgelacht wurde.

Der Dämon bewegte sich nach vorne, fegte mit seinem Schwanz ein paar herumstehende Fässer um und streckte in einer einzigen, fließenden Bewegung eine Kralle aus, um die Frau und das Mädchen zu packen –doch er stockte, schien mitten in der Bewegung in einem Schauer blauer Funken zu gefrieren und auch sein Brüllen verstummte.

Jedoch herrschte keine Stille, denn von oben erklang gackerndes Gelächter. Ragnor blickte hoch. An der Dachrinne, direkt über dem versteinerten Dämon baumelte die lächerlichste Person, die Ragnor je gesehen hatte. Ein junger Mann mit gebräunter Haut, der in einem Ensemble aus purpurnem und grünem Brokat steckte, und ihn ganz offensichtlich auslachte. So viel zu dem wagen Gefühl von eben.

Die Chroniken des Ragnor FellWo Geschichten leben. Entdecke jetzt