Schwarz trifft Grau (oder: Wie Ragnor Tessa Gray begegnete)

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von Vorlostangel

Furui mono o shutoku!"

Verdattert schreckte Ragnor von seiner beengten Pritsche hoch. Was waren das für komische Geräusche? Wie konnte dieses Weib es wagen ihn in aller Herrgottsfrühe in einer Sprache anzuschreien, die ungefähr so verständlich für ihn war wie das Miauen von Magnus' dämlichem Kater? Verschlafen stand er auf und blickte aus dem winzigen Loch, das wohl als Fenster dienen sollte. Kaum sah er auf die Stadt mit den Millionen Gesichtern hinab, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Er war in Tokio -der Stadt, die niemals schlief und die scheinbar um vier Uhr morgens frühstückte. Die Stadt, die er über Jahrhunderte hinweg so zu lieben gelernt hatte -auch wenn er sich nie an die grausamen Frühstückszeiten gewöhnen würde.

Tokio. Allein der Klang des Namens der Stadt faszinierte Ragnor bereits, als er ihn (auf der Flucht vor Magnus und dessen Plänen die Königin von England mit ihm zu verkuppeln) vor ungefähr vierhundertfünfzig Jahren das erste Mal hörte. Menschen, Kultur, Getränke und Essen -von all dem fühlte er sich angezogen wie eine Motte vom Licht.

Kaum verließ Ragnor Fell das enge, stickige Haus, in welchem er genächtigt hatte, wollte er auch schon wieder zurück. Die Straßen Tokios waren wie ein Ameisenhaufen, voll mit geschäftigen Menschen, die ihrer Arbeit nachgingen ohne Rücksicht auf ihre Umwelt zu nehmen.

Männer und Frauen drängelten sich an ihm vorbei, rempelten ihn an oder rannten ihn fast um. Ihn, den frischgebackenen Obersten Hexenmeister von London! Wie konnten sie nur? Er strahlte doch nur so vor Autorität, ein bisschen mehr Respekt wäre da durchaus nett gewesen. Oder zumindest ein bisschen Platz zum Atmen. Wieso interessierte sich eigentlich nie jemand für seine freundlich gemeinten Verbesserungsvorschläge?

Mit entrüsteter Miene setzte sich Ragnor in Bewegung und übersah dabei glatt die Funken sprühenden Finger und den dazugehörigen grauenhaft gekleideten Körper, der sich einen Weg durch die Menschenmassen auf ihn zu bahnte.

„Ragnor! Alter Junge, schön dich wiederzusehen!"

Verwirrt drehte Ragnor sich um, hatte er da gerade etwa ein Wort Englisch aufschnappen können?

„Ragnor! Huhuuuu, mein kleiner seekranker grüner Freund, hier bin ich!", ertönte Magnus Banes Stimme über das geschäftige Treiben und die japanischen Gespräche in der Umgebung hinweg. Während ihm der Gedanke Wieso hasst du mich so sehr, oh Schicksal? durch den Kopf schoss, erkannte Ragnor Magnus neben den vielen stehen gebliebenen Passanten, die erstaunt dessen pinken Turban betrachteten.

„Magnus. Wie ausgesprochen schön dich zu sehen."

„Na na na, Ragnor, höre ich da etwa Ironie in deiner Stimme? Dabei haben wir uns doch seit...hmmm, lass mich lügen, achtzig Jahren nicht mehr gesehen? Nein, wohl doch eher siebzig, deine Frisur sieht noch genauso dämlich aus wie beim letzten Mal."

Ragnor ignorierte den Seitenhieb geflissentlich: „Richtig. Die siebzig besten Jahre meines Lebens -aber die entscheidende Frage ist doch, warum muss ich dich jetzt wiedersehen?"

Ein Schatten huschte über Magnus Gesicht, bis er hinter seinem üblichen Grinsen verschwand. „Ach Ragnor, Süßer, du nimmst mir die Sache mit Peru doch nicht immer noch übel, oder?", fragte er fröhlich ohne auf die vorherige Frage einzugehen.

„Bis zum Ende meines Lebens...", murmelte Ragnor düster.

„Na gut. Komm mit, ich möchte dir jemanden vorstellen, doch ich fürchte, wie müssen erst einmal aus diesem schrecklichen Gedränge heraus, das macht mich ganz nervös -und immer wenn ich nervös bin, bekomme ich Falten, und du weißt ja wie unleidlich ich dann werde."

Die Chroniken des Ragnor FellWo Geschichten leben. Entdecke jetzt