Der Lauscher an der Wand

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Zu Hause angekommen werde ich gleich von Jule und Sean entführt. Wir Kinder haben am Waldrand eine kleine Hütte für uns alleine, in der wir tagsüber machen können, was wir wollen. Naja, zumindest wenn wir nicht gerade unterrichtet werden oder unseren Teil an der Gemeinschaftsarbeit erledigen müssen. Beim Weben zu helfen ist schon toll, aber wenn ich zum Beispiel zum Kochen eingeteilt werde, kriege ich immer Panik (nur wer schon einmal für rund fünfzig Leute Kartoffeln schälen musste, weiss, was ich meine).

Wir haben eine kleine Küchenzeile, einen Tisch (riesengroß, mit Platz für 16 Leute) an dem wir bei schlechtem Wetter unterrichtet werden, ein winzig kleines Bad (das von uns gerne ignoriert wird) und zu guter Letzt eine Ecke, voll gestopft mit Sitzkissen, Kissen und Decken. Zu unserem Glück sind die anderen entweder draußen, oder mit ihrer Arbeit beschäftigt, so dass wir die Ecke für uns haben.

"Also los, erzähl mal, wie war's?" löchert Jule mich sofort. "Welche Tiere hast du gesehen?" Ich hole tief Luft und überlege, womit ich anfangen soll. Da spüre ich in meiner Hosentasche das kleine Teepaket. Vielleicht fange ich damit an. Ich ziehe das Päckchen heraus, grinse frech und frage: "Möchte einer von Euch Tee trinken?" Die Beiden sehen mich verwundert an. "Aber wie ... Ich meine wo ... ach egal, Sean, setz Teewasser auf, ich hole uns Tassen und dann", sie sieht mich streng an, "will ich alles hören!" Wenn Jule diesen Blick drauf hat, tun wir besser, was sie sagt. Erfahrung macht klug, so heißt es doch, oder? Schließlich sitzen wir wieder in der Ecke, diesmal mit dampfenden Teetassen in der Hand. Also hole ich wieder tief Luft und beginne. "Eigentlich hat alles ganz gut begonnen. Pam, das ist die Tierpflegerin, die mich betreuen wird, hat mir alles gezeigt und mir meine Arbeitskleidung gegeben. Wir können uns dort umziehen, damit wir von den Besuchern zu unterscheiden sind. Das gilt auch für Praktikanten. Ich durfte helfen, das Futter für die Tiere vorzubereiten. Da muss man schon eine Menge beachten." Jule und Sean hängen gebannt an meinen Lippen. "Und dann sind wir mit dem Elektroauto durch den Zoo zu den Nilpferden gefahren. Die werden täglich mit Äpfeln gefüttert, für die Zoobesucher. Das ist eigentlich nur eine Nascherei, das wirkliche Futter bekommen sie später. Und dann ist etwas passiert, das dürft ihr niemandem erzählen - das müsst ihr mir schwören!" Verwirrt schauen die beiden mich an. Ich warte, bis sie beide erklären, sie können dichthalten. "Haltet mich nicht für verrückt, aber Nella, das Nilpferd hat mir zugezwinkert und mich angelächelt. Ich habe mich so erschrocken, dass ich den Eimer mit den Äpfeln ausgekippt habe, statt sie einzeln zu werfen." Jule und Sean sehen sich an und müssen dann wie auf Kommando loslachen. "Das Nilpferd hat was ...?" fragt Jule. Und Sean schüttelt sich vor Lachen und japst: "... es hat gelächelt ... und gezwinkert ... ein Nilpferd ... warum hast du nicht zurück gezwinkert?" "Du bist doof", sage ich, muss allerdings auch lächeln. Denn ehrlich, wenn man das so erzählt, dann klingt es wirklich bescheuert.

Also fasse ich mich und erzähle weiter. "Das war noch nicht alles, auch wenn ich im Nachhinein echt überlege, ob das irgendein Test für die Neuen ist. Vielleicht machen die das immer so und alle fallen darauf rein. Egal. Da war noch die Sache mit den Wölfen." "Wölfe", unterbricht Jule mich, "ich liebe Wölfe!" Ein Stoß von Seans Ellbogen in ihre Rippen unterbricht sie. "Ich sollte an der Türe warten, da die Wölfe noch wild und scheu seien, aber in Wirklichkeit haben die sich benommen, wie kleine Hundewelpen. Die kamen zu mir und ließen sich am Bauch kraulen, nein, Jule, du musst nicht so ungläubig schauen. Die haben sich vor mich hingelegt und gewinselt, bis ich die Bäuche gekrault habe. Als ich gegangen bin, hat einer sogar Männchen gemacht. Ich bitte dich, ein Wolf!" "Aaaruuuuhhhhhh", heult Sean, während er sich über die Kissen rollt. Klar doch, das es eine halbe Ewigkeit dauert, bis wir uns wieder eingekriegt haben. Als wir uns wieder beruhigt haben, erzähle ich weiter. "Ich hatte vermutet, dass es an Mum's selbstgemachtem Shampoo liegt, und Pam hat mir den Rest des Tages frei gegeben, mit der Bitte, morgen früh keinerlei selbstgemachte Kosmetika zu tragen oder benutzt zu haben, damit die Tiere ruhiger seien." "Okay" sagt Jule, "und da du jetzt erst kommst, gehe ich mal davon aus, dass du natürlich nicht hier Bescheid gesagt hast, dass du früher fertig bist, habe ich Recht?" "Wohl kaum!" bemerkt Sean. "Den Beweis dafür hältst du doch in der Hand."

Ich lächele die beiden unschuldig an und behaupte: "Ich weiß überhaupt nicht, wovon ihr gerade sprecht!" Woraufhin wir sofort wieder in endloses Gekicher ausbrechen. Ich schaffe es gerade noch, Jule von den vielen Geschäften zu erzählen, als die Glocke zu hören ist, die alle zum Abendessen ruft. Glücklicherweise bin ich die nächsten vier Wochen vom Küchendienst befreit. Ich liebe mein Praktikum. Sean hat letztes Jahr in der Bäckerei ein Praktikum gemacht und uns oftmals Kleinigkeiten mitgebracht, mal Kekse, mal kleine Brötchen. Jule hat schon gefragt, ob ich ihr dann zum Ausgleich vielleicht einen kleinen Tiger mitbringen kann, oder so etwas ähnliches. Klar doch, gar kein Problem.

Gut gelaunt betreten wir die Gemeinschaftshütte und suchen uns drei freie Plätze. Bei Feiern oder bestimmten Festtagen sitzen die Familien zusammen, aber an einem gewöhnlichen Tag kann sich jeder dort hinsetzen, wo etwas frei ist. Wir haben Glück und finden drei freie Plätze, die nebeneinander sind. Nach dem Essen bleiben wir drei noch eine Weile zusammen, aber ich vergesse den Zwischenfall mit den Vögeln vollkommen. Erst als ich dann schließlich in meinem Bett liege, fällt mir die ganze Sache wieder ein. Schlagartig bin ich wieder hellwach. Ich versuche es noch eine Weile, aber letztlich begreife ich, dass ich noch nicht einschlafen kann. Ich schleiche mich aus meinem Zimmer, um mir in der Küche noch einen Apfel zu organisieren.

Als ich an dem Zimmer meiner Eltern vorbeischleiche, kann ich hören, wie sie sich leise unterhalten. Als meine Mutter sagt: "Glaubst du, sie schläft jetzt?", bleibe ich stehen und muss einfach lauschen. "Ich denke schon", antwortet mein Vater, "sie hatte einen aufregenden Tag!" "Ich weiß ja, dass wir das Praktikum nicht verhindern konnten. Aber ich habe mir solche Sorgen gemacht." Leise schluchzt sie. Am liebsten würde ich in das Zimmer gehen und sie trösten, aber ich will nicht zugeben, dass ich gelauscht habe. Und natürlich wird es doch bestimmt ganz interessant, denn offensichtlich geht es ja wohl um mich, oder? "Es scheint nichts passiert zu sein" antwortet mein Vater schließlich. "Wir müssen jetzt halt noch eine Weile gut aufpassen. Wenn dann nichts passiert, haben wir Glück gehabt. Solange sie ihre Kette trägt, wird keiner der Diesseitigen sie erkennen und sie ist in Sicherheit." Meine Kette! Ich schrecke zusammen. Ich habe meine Kette ausgezogen, als ich die Dienstuniform des Zoos angezogen habe. Pam sagte, dass Schmuck in diesem Gewerbe nicht getragen werden dürfe, aus Sicherheitsgründen. Und erst bei Sean und Jule in der Hütte habe ich die Kette wieder angelegt. Ich höre Bewegung aus dem Zimmer und husche schnell und leise zurück in mein Zimmer. Was bekommen wir hier immer beigebracht? Der Lauscher an der Wand hört seine eig'ne Schand. Das hab ich jetzt davon.

Was um Himmels willen bedeutet das jetzt alles? Was ist mit meiner Kette und warum muss ich sie tragen. Ich habe mir da nie Gedanken drüber gemacht, aber jetzt, wo ich es mache, fällt mir auf, dass meine Eltern schon immer darauf geachtet haben, dass ich die Kette trage. Ich dachte, das sei so eine 'Familiensache', wo sie doch ähnliche Ketten tragen, aber das war ja wohl ein Irrtum. Oder doch nicht? Was genau ist hier eigentlich los? Wer soll mich nicht erkennen? Die 'Diesseitigen'? Was zum Henker soll das denn jetzt wieder. Ich wälze die Fragen hin und her und komme doch zu keiner Lösung. Soll ich meine Eltern darauf ansprechen? Den Schmuck morgen doch tragen, oder eben gerade jetzt nicht? Jule und Sean wecken? Über all den Fragen schlafe ich schließlich doch noch ein.

Als Mum mich weckt, bin ich todmüde. "Na komm schon Prinzessin!" ruft sie schließlich. "Das Frühstück wartet nicht ewig auf dich und du musst doch heute wieder pünktlich bei deinem Praktikum sein!" Wie eine Lawine stürzt sich das ganze Chaos von letzter Nacht wieder auf mich. Das Praktikum - die Kette - die Diesseitigen - das ganze Durcheinander und dazu noch mein bescheuerter Name. Es versteht sich von selbst, dass ich meinen Kopf ganz tief unter meinem Kissen vergrabe und noch ein wenig zu schlafen versuche, oder?


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