Das Training beginnt

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Beim Aufwachen lasse ich die Augen erst noch geschlossen. „Mann, hab ich einen Scheiß geträumt!" murmele ich vor mich hin. Ich strecke mich und stoße gegen einen anderen Körper. Schnell öffne ich die Augen, als ich auch schon angemotzt werde: „Das war kein Traum, du ... (nein, das schreibe ich hier nicht auf, ich bin ja gut erzogen)! Und wenn du so freundlich wärst, deine Arme aus meinen Rippen zu nehmen ...". Jules Laune am frühen Morgen ist noch unfreundlicher, als meine. Allerdings kriegen wir uns meistens ganz schnell wieder ein. Wir hüpfen auf dem Bett herum und lassen uns immer wieder in die weiche Matratze fallen. Ein leises Klopfen an der Verbindungstüre unterbricht uns. Sean streckt seinen Kopf zu uns herein. „Seid ihr schon angezogen?" „Nö, aber du kannst reinkommen, wir sind schicklich bedeckt" kichern wir beide. Sean kommt herein. Er trägt ein Hemd, das von hier stammt, aber die Boxershorts sind eindeutig von zu Hause. „Nicht sehr stilecht!" rügt Jule ihn. Sean bekommt einen ganz roten Kopf und spricht dann, obwohl wir fest damit rechnen, dass er stottert, leise, aber eben ohne zu stottern: „Ihr habt ja keine Ahnung. Wisst ihr, was die mir zum Schlafen hingelegt haben? Der Stein im Bett war ja nett, aber ein Nachthemd? Ich bin ein Mann und kein Mädchen!" Da müssen wir alle so sehr lachen, dass wir Tränen in den Augen haben und schon fast Bauchschmerzen. So kann von mir aus jeder Tag hier beginnen.

Wieder einmal brauchen wir keine Worte, um uns zu verstehen. Ohne Absprache stehen wir alle auf und ziehen uns an. Da wir heute kämpfen sollen, suche ich mir etwas Praktisches heraus. Leider dürfen wir hier wohl keine Jeans anziehen oder in Leggins trainieren. Also muss es die Kleiderauswahl auch tun. Und tatsächlich finde ich ein Kleid, das sowohl bequem, als auch praktisch ist. Ein Blick zu Jule zeigt mir, dass sie doch tatsächlich fast das gleiche Kleid angezogen hat, nur in dunkelblau, was perfekt zu ihren hellblauen Augen passt. Mein dunkelgrünes passt gut zu meinen hellgrünen Augen.

Das Frühstück ist nun deutlich bescheidener, als das ‚Festmahl' gestern, doch selbst damit könnte man noch einige Leute mehr mit satt bekommen. Auf meine Frage hin erklärt mir Tante Katia, dass es auch genauso sei. Sie bestelle immer mehr, damit die Diener besseres Essen bekämen, als nur Wasser und Brot oder Haferschleim. Schließlich solle ja nichts von den Resten verderben. Auf diese Art gäbe es keine Mangelernährung. Ich ahnte ja schon, dass meine Tante eine kluge, aber durchtriebene Person ist. Ob die Diener den Trick schon kannten?

Nach dem Frühstück begeben wir uns mit Tante Katia und Onkel Hector in einen großen Raum, der offenbar als Übungsraum dient. In jeder Ecke stehen Waffen, Waffen jeder nur erdenklichen Art. Allerdings finden sich dort keine Bögen oder Pfeile. In der Mitte des Raumes steht bereits ein junger Mann. Er trägt ein weißes Hemd, dazu hellbraune Lederhosen und ein Wams in der gleichen Farbe. Die Sachen sehen ganz weich aus und ich weiß sofort, was Jule denkt. Da sagt sie auch schon leise zu mir: „Die Klamotten will ich auch!" Ich denke, sie würde darin super aussehen.

Mein Onkel ergreift das Wort: „Wächter Jannis. Es ist schön, dass Ihr an Eurem freien Tag Zeit für meine lieben Verwandten findet. Die jungen Leute möchten gerne einmal die berühmten Kampfkünste der Wächter sehen. Vielleicht mögt Ihr ihnen ein wenig beibringen. Es ist nie gut, wenn junge Leute schutzlos sind. Besonders junge Frauen." Jannis verbeugt sich vor meinem Onkel und meiner Tante. Ich habe noch nicht herausgefunden, ob die Wächter meinen Onkel wegen seiner Position bei den Wächtern schätzen oder weil er der Gemahl von Lady Katia ist. Möglich, dass ich es nie erfahren werde. „Was wollt Ihr zuerst sehen?" Er hat eine angenehme Stimme, ein wenig rau, doch fest. Ich antworte ihm: „Egal!" während Jule gleichzeitig „Alles!" sagt. Nur Sean ist praktischer, als wir beiden und reicht Jannis einfach einen gebogenen kurzen Säbel. Jannis zögert nicht und führt ein paar Bewegungen vor, die unheimlich elegant, aber auch gefährlich aussehen. Ein wenig erinnern mich diese Bewegungen an Tanzschritte, die ich als kleines Mädchen gelernt habe. Je länger ich Jannis zusehe, desto sicherer bin ich, dass ich diese Schrittfolgen kenne. Nach kurzem Zögern versuche ich mich einfach an der Bewegung. Der Raum ist groß, so dass ich nicht mit Jannis zusammenstoße. Dass dieser plötzlich aufhört und mir zusieht, bemerke ich nicht, weil ich meine Augen schließe und mich an den Zauberstab erinnere, den meine Mum mir dazu gebastelt hat. Ich hebe meinen linken Arm und bewege ihn, wie ich es gelernt habe. Plötzlicher Applaus reißt mich aus meiner Konzentration. Tante Katia ist begeistert und klatscht. Jannis hingegen sieht mich irritiert an. „Wo habt Ihr diese Schritte gelernt? Ich dachte, diese Schrittfolge ist allein den Wächtern bekannt. Woher kommt Ihr doch gleich noch einmal?" Misstrauen färbt seine Stimme dunkler.

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