Alles in der Schwebe

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In den nächsten Tagen stellt sich eine Art von Routine ein. Morgens üben wir mit Wächter Jannis mit den verschiedensten Waffen. Mittlerweile hat jeder von uns seine Lieblingswaffen gefunden. Bei mir sind es zwei Ranuk und der Umgang mit verschiedenen kleinen Messern liegt mir. Sean perfektioniert seinen Umgang mit dem langen Stab. Er erklärt uns, dass er damit immer eine Waffe hat, selbst wenn wir überrascht werden. Feldarbeitsgerät oder Holz findet sich meistens, so wären wir nicht schutzlos, auch ohne Waffen. Jule hat sich ein Beispiel an mir genommen und den Tanz mit zwei Waffen begonnen. Doch die Ranuk lagen ihr überhaupt nicht in Verbindung mit dem Tanz. Mit zwei kleinen Messern in der Hand und mehreren versteckten Messern am Körper wird sie zur Wildkatze. Jannis hat uns inzwischen noch mehrere Schrittfolgen gezeigt, doch wie sich herausstellte, haben wir auch die als kleine Mädchen gelernt. Offenbar haben mir meine Eltern mehr beigebracht, als ich dachte. Unsere Erklärung, das Tanzen diene zur Konzentration hat er voll und ganz akzeptiert. Es scheint eine ähnliche Erklärung bei den Wächtern zu geben.

Am Nachmittag führt uns Jannis herum. Er ist mittlerweile ganz für uns abgestellt worden. Es scheint ihm zu gefallen, dass wir viel Zeit miteinander verbringen können. Er hat uns schon durch den ganzen Palast geführt. Seine Wächteruniform hat er wohl an den Nagel gehangen, wie man bei uns zu Hause sagen würde, hier heißt es eher, er habe seine Uniform in die Kammer gebracht (und das ist wörtlich gemeint, da alle Wächter ihre Uniformen in der gleichen Kammer hängen haben). Er sieht so aus wie wir, ein junger Mann, der Spaß mit Freunden hat. Heute wollen wir einmal den Palast verlassen und den Ort besuchen gehen. Jule, Sean und ich sind schon ganz aufgeregt. Wie wird es wohl sein?

Der Ort, in dem wir uns umsehen, scheint aus dem Mittelalter zu stammen. Allerdings sieht es hier deutlich sauberer aus, als es bei uns im Mittelalter wohl war. Ich kann nicht behaupten, dass ich nicht den Luxus einer Dusche oder gar einer normalen Toilette vermisse, aber offenbar hat man hier schon das Beste aus der Lage gemacht. Und mit Plumpsklos (den Nachttopf will und werde ich nicht benutzen, bis ich mindestens 120 Jahre alt bin!) und der Badekammer kommen wir ganz gut zurecht. Die Kleider, die uns meine Tante zur Verfügung stellt, sind superbequem und ich habe mich schon richtig darin verliebt. Die Korsage daran ersetzt uns mittlerweile den BH, schließlich können wir unsere ja kaum zum Waschen rauslegen. Bis jetzt haben wir sie einfach mit in die Badekammer genommen und ausgewaschen, aber wir müssen aufpassen, wo wir unsere mitgebrachte Wäsche dann trocknen lassen. Nicht, dass wir wegen so einer Kleinigkeit auffallen!

Jannis führt uns in eine Backstube und geht zu der älteren Dame, die vor dem Ofen steht und Brote herausholt. Er umarmt sie von hinten und bekommt prompt einen Klapps. Gutmütig lacht er und hilft ihr, die Brote herauszuholen. Dann stellt er uns vor: „Mutter, darf ich dir die Verwandten von Sir Hector vorstellen? Ich führe sie heute ein wenig durch den Ort!" „Ach, Junge! Warn mich doch vor!" schimpft sie ihn aus. Dann klopft sie sich das Mehl aus der Schürze und macht einen tiefen Knicks. „Verzeiht mir mein Aussehen. Ich war nicht auf so hohen Besuch vorbereitet. Darf ich Euch etwas von meinem Brot anbieten?" „Es wäre uns eine Ehre" antworte ich ihr schnell. „Bitte verzeiht unser Eindringen. Euer Sohn verriet uns nur, dass es hier das beste Brot jenseits der Palastmauern gäbe. Wir wollten Euch nicht in Verlegenheit bringen, sondern nur Euer köstliches Brot probieren." Wie zur Bestätigung meiner Worte knurrt Seans Magen laut und deutlich. Da muss Jannis' Mutter lachen und schneidet tatsächlich eine ganz dicke Scheibe Brot für Sean ab. Der bedankt sich schnell und beißt genüsslich hinein. Dann bekommen auch wir eine Scheibe, wenn auch deutlich kleiner. Das Brot schmeckt wirklich köstlich und wir plaudern noch eine Weile mit Jannis Mutter. Als wir gehen drückt sie ihren Sohn ganz fest: „Komm uns bald mal wieder zu Hause besuchen". Sie knickst vor uns und Sean, der ihr besonders gut gefällt, mit seinem guten Appetit, bekommt noch eine weitere Scheibe ihres leckeren Brotes.

Im Palast angekommen, spazieren wir noch ein wenig durch die Außenanlage. Als wir schließlich vor dem Übungsplatz ankommen, fällt mir auf, dass wir noch gar nicht mit Pfeil und Bogen schießen durften. Ich zupfe Jannis am Ärmel und frage dann unschuldig: „Jannis, wolltet Ihr uns nicht noch zeigen, wie man mit Pfeil und Bogen schießt?" Natürlich haben wir schon ein bisschen Erfahrung, aber das verrate ich lieber nicht. Außerdem kennen wir die Bögen von hier doch gar nicht. Vielleicht ändert die Art des Bogens auch den Schuss? Zögernd lässt sich Jannis darauf ein. Da das offizielle Training aber beendet ist, ist der Platz leer und er holt alles, was wir brauchen. Zwei unterschiedliche Bögen und genug Pfeile. Sean stuppst uns an und lächelt: „Robin Hood?" „Oh, ja!"

Als Jannis den ersten Bogen in die Hand nimmt, beobachte ich ihn genau. Zuerst sieht alles genau so aus, wie damals zu Hause, doch bevor er den Pfeil abschießt, korrigiert er den Bogen mitsamt Pfeil nach rechts. Ich stehe genau hinter ihm und sehe dafür keinen Grund, doch als der Pfeil den Bogen verlässt, findet er sicher sein Ziel - genau im Schwarzen. Wir applaudieren und Jannis wechselt den Bogen. Hier beobachte ich wieder das Gleiche, nur dass er hier nach links korrigiert. Okay, der lange Bogen nach links, der kurze nach rechts. Ich nehme den kurzen Bogen in die Hand und spanne ein wenig damit herum, um ein Gefühl dafür zu bekommen. Ich nehme mir einen Pfeil und mache alles so, wie wir es gelernt haben, korrigiere aber ein wenig nach rechts. Einatmen, ausatmen, loslassen. Ja! Genau getroffen. „Anfängerglück" behaupte ich. Doch als ich Jule den Bogen übergebe, flüstere ich ihr zu: „Korrigier nach rechts!" Sie lächelt und trifft auch genau. Sean hat sich in der Zwischenzeit den langen Bogen genommen. Schnell gebe ich ihm ein Zeichen, dass er nach links korrigieren soll. Auch er trifft.

Bei Jannis fassungslosem Gesicht brechen wir in Gelächter aus. Dann gestehe ich, dass wir alle schon einmal einen Bogen in der Hand hatten und ich seinen Trick beobachtet habe. Einen Moment lang sieht er so aus, als könnte er sich nicht zwischen Lachen und Schimpfen entscheiden. Zum Glück entscheidet er sich fürs Lachen. Wir üben noch eine ganze Weile, aber es ist wohl mit dem Bogenschießen genauso wie mit dem Radfahren – man verlernt es nicht! Am Abend sitzen wir zusammen mit Onkel Hector und Tante Katia um den Tisch und überlegen, wie wir jetzt weiter vorgehen können. Uns fehlen immer noch die Drei aus der Prophezeiung. Wenn Jannis mit uns zusammen isst, übe ich still und leise mit Tanya während sich die Gespräche um andere Sachen drehen.

So plätschern die Tage vor sich hin, morgens trainieren, nachmittags spazieren und trainieren, abends Gespräche. Irgendwie hängt alles in der Schwebe. Natürlich ist mir klar, dass wir Übung brauchen, aber dafür, dass wir am Anfang unserer Reise so gedrängt worden sind, passiert jetzt gar nichts mehr. Mittlerweile habe ich noch nicht einmal mehr Muskelkater nach dem Training und den beiden anderen geht es genauso. Da wir uns auf unsere Lieblingswaffen festgelegt haben, hat Onkel Hector uns auf dem Markt entsprechende Waffen gekauft. Ich habe zwei Ranuk und ein kleines Messer bekommen, Jule sieben unterschiedliche kleine Messer und Sean, der von sich selbst behauptet, keine Waffen zu mögen, erhielt ein wunderschönes kleines verziertes Messer. Onkel Hector übergab es Sean mit den Worten: „Mögest du das Messer nie benutzen müssen. Jedoch bist du vorbereitet und nicht waffenlos!" Sean hat sich mehrmals dafür bedankt, aber Jule und mir ist klar, dass er niemals zu dem Messer greifen wird, um sich zu verteidigen. Von uns dreien ist Sean definitiv der größte Pazifist.

Onkel Hector hat uns verschiedene Landkarten gebracht, die wir eifrig in unserem Zimmer studieren. Außerdem hat Jule sich drangemacht und kopiert die meisten Karten ins Din-A4-Format, die Größe haben wir nämlich an Papier mitgebracht. Da wir sparsam damit umgehen müssen, beschriftet sie die Vor- und Rückseite. Natürlich ist uns auch schon der Schwachpunkt daran aufgefallen. Wir haben nur Bleistifte dabei und unser Papier sollte nach Möglichkeit nicht nass werden, sonst werden die Karten unlesbar. Aber das Kopieren und Auswendiglernen der Karten gibt uns zumindest das Gefühl, wir würden etwas Sinnvolles tun und nicht nur einfach herumsitzen.

Wir vermeiden es so außerdem, zu lange an zu Hause denken zu müssen.



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