Federkuss

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Als wir dann endlich erste Gerüchte über eine Hexe hören, sind wir sehr erleichtert. Die lange Untätigkeit hat uns langsam fertig gemacht. Wir gehen ins Dorf, um noch mehr zu erfahren, doch die Gerüchte sind vage und geben uns nur die ungefähre Richtung vor, in die wir reisen müssen. Enttäuscht, doch nicht entmutigt kehren wir in den Palast zurück. Dort höre ich Tanyas Stimme in meinem Kopf, leise und erschöpft klingt sie: „Komm zu mir, sofort! Ich bin im Familienzimmer." Ich berichte den anderen davon und so schnell wir können, laufen wir nach oben ins Familienzimmer. Tanya sitzt an ihrem Webrahmen, doch ihre Finger ruhen und sie starrt ins Leere. Ich versuche eine Verbindung zu ihr herzustellen und plötzlich sehe ich eine junge Frau. Sie trägt einen Umhang, wie ihn hierzulande viele Frauen tragen, doch als sie sich bewegt, sehe ich die Kleidung, die sie darunter trägt: Eine knallenge, schwarze Hose, ein Top, das Jule sofort auch anziehen würde und darüber eine Jacke aus einem Material, das ich noch nie gesehen habe. Diese Art der Kleidung wird hier definitiv nicht getragen. Bei uns aber auch nicht, würde ich wetten! Sie bewegt sich und ich kann nun auch ihre Haare sehen. Ihre lockigen Haare sind tatsächlich türkis. Als sie sich bückt, um mit einem kleinen Messer irgendwelche Kräuter zu schneiden, murmelt sie Worte in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Es klingt, als würde sie ein Gedicht aufsagen, oder vielleicht ein Rezept vor sich hin murmeln. Plötzlich endet diese Vision und ich stehe wieder im Familienzimmer, vor Tanya und schaue auf sie herab.

„Du hast sie also gesehen?" fragt Tanya mich. Ich nicke. „Das ist die Hexe, die euch noch fehlt. Sie kommt nicht aus dieser Welt und auch nicht aus eurer. Sie ist eine Wanderin, die viele Welten durchwandert und nach den richtigen Kräutern und Rezepten sucht, um ihr Volk zu heilen und zu befreien. Sie wechselt an Vollmonden die Welten. Ihr habt also noch genau zehn Tage, um sie zu finden." Schön, dass wir keinen Druck haben. Eine Unbekannte finden, die nicht gefunden werden will, in einem Land, das wir nicht kennen, auf Strecken, die - so die Gerüchte - nicht mehr sicher sind, aber nur kein Stress! Wie heißt es doch so schön, man sollte aufpassen, was man sich wünscht, man könnte seinen Wunsch erfüllt bekommen! Ich hatte mir ja gewünscht, dass endlich mal was passieren würde, aber doch nicht so viel auf einmal, oder?

Wir machen uns fertig, denn uns ist natürlich bewusst, dass wir nun unverzüglich die Reise antreten müssen. Unsere Rucksäcke haben wir schnell gepackt, das wichtigste sind unsere neuen Schätze. Die Waffen tragen wir am Körper, doch die Karten sind sicher verstaut. Zusätzlich versorgen wir uns mit Proviant, nur die Weinschläuche haben wir allesamt mit Wasser gefüllt. Wir können weder die Portale nutzen, noch dürfen wir mit einem Wächter unterwegs sein. Die beste Tarnung, die wir haben, sind immer noch unsere Mantelsteine. Die Hexe, so hat Tanya gesehen, ist sehr scheu und traut niemandem, der mit irgendeiner der Regierungen zusammen arbeitet. Sobald sie nur ein Gerücht hört, dass sich so jemand in ihrer Gegend aufhält, verlässt sie sie sofort. Wer weiß schon genau, wann wir sie dann wiederfinden? Ich sehe um mich und bin - wieder einmal - erstaunt darüber, wie sehr wir uns verändert haben. Seit ich zurück denken kann, sind wir drei eine Einheit gewesen. Und nun habe ich den Eindruck, dass wir unsere Kinderjahre weit hinter uns gelassen haben. Durch unser Training haben wir sämtlichen 'Babyspeck' verloren, Sean sieht plötzlich aus wie ein Mann und Jule, sie wirkt mit ihren kurzen Haaren und natürlich auch der hiesigen Kleidung wie eine Amazone. Auf dieser Reise wird sich zeigen, ob wir ausreichend vorbereitet wurden. Die Pferde sind gesattelt und unser Proviant und einige Waffen befestigt.

Meine wilden Locken habe ich zu einem Zopf gebunden, damit sie mich während des Ritts nicht behindern. Ich sehe rüber zu Jannis, der uns begleiten will. Da er die meiste Erfahrung von uns hat, vertraue ich darauf, dass er besser beurteilen kann, ob wir alles haben. Noch während ich ihm ins Gesicht schaue und Zustimmung entdecke, sehe ich aus dem Augenwinkel eine kleine rosa Feder. Sie scheint in der Luft zu stehen und bewegt sich nicht einmal im leichten Wind, den wir haben. Das kommt mir doch sehr merkwürdig vor. Aber als ich mich zu ihr umdrehen will, spüre ich unvermittelt eine leichte, kaum wahrnehmbare Berührung auf meinen Lippen. Ich berühre mit den Fingerspitzen meine Lippen und merke, dass ich anfange zu schwanken. Wie in Zeitlupe falle ich sanft auf den Boden. Um mich herum werden alle aufgeregt. Doch irgendwie belastet mich das nicht. Alles was mich interessiert, ist die Spur aus rosafarbenen Federn, die von mir wegführt. Ich spüre ein Sehnen, das ich noch nie gekannt habe. Instinktiv weiß ich, dass ich den Federn folgen muss. Ich möchte aufstehen, doch es funktioniert nicht. Und obwohl ich das noch nie erlebt habe, ist mir klar, dass ich einer Ohnmacht nahe bin. Meine Ohren rauschen und in meinem Kopf dreht sich alles. Langsam wird alles dunkel, als ich spüre, wie mir jemand etwas in den Mund schiebt. Eine Frucht, ich würde sagen, dass es sich um Maulbeeren handelt. Ehrlich gesagt, diesen Geschmack mochte ich noch nie, aber mein Kopf wird wieder klarer und endlich kann ich wieder etwas deutlicher sehen. Ich nehme die anderen wieder wahr. Sie stehen aufgeregt um mich herum und Linna, die sich auch auf dem Hof befunden hat, kniet neben mir und hält mir eine Hand voll Maulbeeren hin.

"Hier, esst die auch noch." Dann sieht sie rüber zu meinem Onkel. "Es war ein Federkuss! Ich kenne die Zeichen. Die Maulbeeren helfen zwar eine Weile, aber dennoch wird sie der Spur folgen müssen. Sie hat keine Wahl. Die Schmerzen setzen ein, wenn sie sich zu weit von ihrem Ziel entfernt. Die Maulbeeren lindern den Schmerz, doch der Federkuss wird sie beeinflussen." Mein Onkel sieht aus, als hätte er einen Schock erlitten. Also kann ich wohl davon ausgehen, dass ein Federkuss, auch wenn der Name harmlos klingt, wohl eher nicht harmlos ist. Im Augenblick jedoch geht es mir gut. Sehr gut sogar! Ich setze mich auf und mein Onkel ergreift meine Hände. "Jetzt ist es noch wichtiger, dass ihr die Hexe findet. Möglicherweise kann sie dir helfen!" Ich höre, wie Linna etwas vor sich hin murmelt, dass sich ganz nach "Alter Narr" anhört. Ich lächele und stehe langsam wieder auf. Die rosafarbenen Federn liegen zwar immer noch da, doch sie sind ganz hell geworden, fast durchsichtig. Als ich versuche eine aufzuheben, gleitet sie mir durch die Finger, ganz so, als wäre sie überhaupt nicht wirklich hier. Linna beobachtet mich und hebt, als sie bemerkt, dass ich es gesehen habe, bedeutungsvoll eine Augenbraue. Ich nehme also mal an, dass dies wohl die Spur ist, der ich folgen soll. Ich fühle mich seltsam losgelöst, so als ob nichts mehr wichtig ist. Ich muss mich zusammenreißen, aber es fällt mir extrem schwer. Ich esse noch ein paar Maulbeeren und merke, wie ich wieder konzentrierter werde.

Es hilft alles nichts, egal, wie es mir geht. Wir haben ein enges Zeitfenster für die Hexe. Finden wir sie nicht in der vorgegebenen Zeit, dann ist sie weg und wir stehen dumm da. Also drehe ich mich zu Linna um und stecke mir gleichzeitig noch mehr von den Beeren in die Hand. Für taktvolles Anklopfen an ihren Verstand fehlen mir die Zeit und die Konzentration. ‚Was muss ich wissen?' Überrascht schaut sie mich an, dann antwortet sie: ‚Wer immer das war, muss Euch bereits begegnet sein, Euch sogar berührt haben. Derjenige muss wissen, wer Ihr seid, alles andere macht keinen Sinn!' ‚Wie lange dauert es, bis ich der Spur folgen muss? Wie komme ich aus der Geschichte wieder raus?' ‚Es ist unterschiedlich, bei einer schwachen Verbindung kann es bis zu einem Monat dauern, bis der Kontakt zwingend erfolgen muss. Bei einer starken Verbindung kann es schon nach Stunden so weit sein. Die Beeren werden Euch helfen, aber Ihr müsst immer welche bei Euch tragen, sonst können die Schmerzen unerträglich sein.' Laut sagt Linna zu mir: „Wartet hier, Mädchen, ich hole Euch schnell etwas aus der Küche" und verschwindet auch sofort. Als sie wiederkommt, hat sie einen Sack dabei, ebenso einen kleinen Beutel, den sie an meinem Gürtel befestigt. Bevor sie den Sack an meinem Sattel befestigt, öffnet sie ihn kurz und zeigt mir den Inhalt: Maulbeeren - getrocknete Maulbeeren. „Das sollte reichen!" sagt sie dann abschließend. „Unterwegs könnt Ihr Euch auch noch welche besorgen!" Gut, das sollte dann den Kontakt mit der Hexe bequem herstellen können. Immerhin kaufen wir unterwegs schließlich auch ‚Kräuter und Beeren' ein, unverfänglicher geht es wohl kaum.


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