1. Autos

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'Heute ist ein wunderschöner Morgen. Der Tau glänzt auf den einzelnen Grashalmen und fängt die vorsichtig tastenden Strahlen der aufgehenden Sonne auf.
Die kleinen Vögelchen in der hohen Tanne fangen schon an ihren Morgengruß zu singen und hier und da lucken ihre kleinen Köpfchen mit den putzigen schwarzen Knopfäuglein aus dem Geäst!...'

Stöhnend klappe ich mein Buch zu.
Was für ein Geschwafel!
Wie schafft meine Mutter das nur, sich jeden Tag dieselbe Mühe zu machen, während meiner Abwesenheit in mein Zimmer an die Bücherkiste zu gehen, alle anderen Bücher wegzutun, das Tagebuch, das am untersten liegt, herausnehmen und dann auch noch jedes Wort wirklich zu lesen?

Ganz zu schweigen davon, dann auch noch alles wieder auf seinen Platz zurückzustellen, damit ich auch ja nichts bemerke!
Hoffentlich weiß sie es zu schätzen, dass ich gleich so früh am Morgen meine geringe künstlerische Ader aufbrauche.
Nur für dich, Mama!
Aber auch nicht ganz so viel!

Das Buch, das meiner Mutter den inneren Seelenfrieden bescheren soll, landet wieder auf dem Grund meiner Bücherkiste.
Darüber stapel ich noch schnell die englische Gesamtausgabe von 'Herr der Ringe', die sieben 'Harry Potter'-Bände, die Bibel und ein paar Atlanten. Alles große, schwere Bücher.
Nach kurzem Überlegen packe ich noch schnell die Reihe von 'Das Lied von Eis und Feuer' darauf.
Wenn sie schon unbedingt schnüffeln will, soll sie auch ein bisschen Kalorien abbauen dürfen!

Nach einem letzten Blick in den Spiegel, ich sehe natürlich wie immer besonders verpennt aus, schultere ich meinen Rucksack und trample lautstark die Treppe herunter.
Ein kleiner Protest dafür, dass ich als Einzige so früh aufstehen darf!
Einzelkind zu sein ist furchtbar!

In der Küche wühlte ich orientierungslos in dem Vorratsschrank herum.
Oh, Kuchen! Einpacken!
Etwas Käse... riecht gut... Mitnehmen!
Ist das etwa Obst??
Meine große Vorratsbox füllte sich viel zu schnell.
Also blieb mir traurigerweise nichts weiter übrig, als mich an den Tisch zu setzen und fleißig Nutellabrote zu schmieren.

Schließlich, mit Essen für eine ganze Weltreise, gehe ich aus dem Haus.
Leider Gottes sind meine Eltern in den wohl langweiligsten und spießigsten Stadtteil gezogen, der zu finden war.
Die meisten Anwohner standen erst auf, nachdem ich mir in der Schule schon mindestens zwei Stunden die Hose durchgesessen habe.
Was bedeutet, dass nicht einmal der Duft von einem Auto zu riechen ist.
Alle Bonzenwagen sind fein säuberlich in ihren Garagen geparkt, damit ein geplagtes, siebzehnjähriges Mädchen nicht einmal auf die Idee kommen kann, sich vor eins dieser Angeberstücke zu werfen.

Also wird das wieder nichts.
Während mir eine unbekannte Sängerin in schrillen Tönen ihr Herzweh in meine gepeinigten Ohren hineinschreit, stampfe ich mürrisch die Straße entlang.
Angeblich soll das Lied gerade total der Hit sein, aber kurz bevor meine Ohren anfangen zu bluten, schalte ich um.
Beethovens Fünfte.
Da muss ich mich wenigstens nicht um ein Textverständnis bemühen.

Die Bushaltestelle liegt an einer etwas belebteren Straße. Jedenfalls tagsüber.
Aber bei der Frühe begegnet man hier nur zwei Arten von Autofahrern:
Diejenigen, die sich gerade erschöpft von einem Besäufnis nach Hause fahren und diejenigen, die sich mental auf ihren Unterricht vorbereiten und sich sehnlichst wünschen, dass in der Schule der Konsum von Alkohol erlaubt wird.

Meine Bus hält für gewöhnlich auf der anderen Straßenseite.
Jeden Morgen überlege ich, ob ich sofort hinübergehe oder auf das nächste Auto warte. Auch wenn fast nie eins kommt.
Mit einem Blick auf die Uhr entscheide ich mich, ein Stück an der Straße entlang zu laufen.
Vielleicht habe ich ja diesmal Glück.

Ich überlege kurz, wie groß der Schmerz sein wird, wenn ich das große Bushaltestellenschild einfach ignoriere, aber bevor ich zu einem Ergebnis gekommen bin, haben meine Reflexe schon entschieden und ich knalle lediglich hart mit der Schulter dagegen.
Aus Bio habe ich gelernt, dass man angeborene und angewöhnte Reflexe besitzt.
Offenbar sind alle meine Reflexe angeboren, da ich mir selten die Mühe mache, irgendetwas in meinem Umfeld zu bemerken und aber irgendwie trotzdem noch unter den Lebenden weile.

Das süße Summen eines Automotors hält mich davon ab, mich in inneren Schimpftiraden zu ergehen.
Aus der Entfernung versuche ich, meine detektivischen Fähigkeiten zu verbessern und mustere den willkommenen Störenfried.
Das Auto war blau.
Und relativ klein.
Ich nehme mir vor, mir ein paar Automarken zu merken.
Dann käme ich mit dem Detektivspielen schon deutlich weiter.

Ich gehe langsam weiter und betrachte das näherkommende Fahrzeug.
Nach den Schlängellinien zu urteilen, hat entweder in der anderen Richtung eine neue Schule aufgemacht und das Lehrerehepaar legt zu Beginn noch schnell einen Quicky im Auto hin, um sich aufzumuntern oder es ist ein später Partylöwe auf dem Weg nach Hause.

Obwohl er inzwischen Dreißigerzone ist, verlangsamt der Wagen nicht, sondern bleibt locker auf seiner hohen Geschwindigkeit und kommt rasch näher.
Ich betrachte die Windschutzscheibe mit den sinnlos hin und herwischenden Scheibenwischern.
Die Motorhaube ist blitzeblank und glänzt.
Sie scheint frisch gewaschen worden zu sein.
Es wäre fast schade, wenn etwas Rot darauf kommen würde.
Aber nur fast.

Meine Haltestelle ist noch zehn Meter entfernt auf der anderen Straßenseite.
Der Wagen kommt näher.
In meinem Geist spüre ich schon den Aufprall und eine Gänsehaut überzieht mich.
Beethoven ist völlig vergessen.
Meine Füße tragen mich immer weiter, der Abstand verringert sich schnell.

Der Wagen kommt näher.
Inzwischen kann ich sogar den Fahrer erkennen. Aber nur schemenhaft.
Ohne das ich es bemerke, verschnellert sich mein Atem.
Aber ich nehme wahr, wie sich mein Herzschlag vor Vorfreude erhöht.
Es wird ein schneller Aufprall sein.
Ich überlege, was schmerzhafter ist, Räder oder Windschutzscheibe.
Bei den Rädern stehen die Überlebenschancen um einiges niedriger, da zu dem Aufprall auch noch das Überfahrenwerden hinzukommt.

Der Wagen kommt noch näher.
Noch zehn Meter, noch sieben, fünf, drei, zwei.
Direkt gegenüber ist meine Haltestelle.
In dem Moment ändern meine Füße automatisch die Richtung und ich gehe wie im Schlaf, vollkommen ruhig und ohne jegliche Aufregung auf die Straße.
Es leben die angeborenen Reflexe!

Der Wagen schert aus und fährt eine wacklige Kurve. Der Kotflügel schießt keinen Zentimeter an mir vorbei.
Meine Schultern sacken nach unten. Na super!
Und in zwei Minuten kommt mein Bus!

Das Suizid-DilemmaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt