Das rote Kleid, das ich gestern getragen habe, liegt auf dem Boden.
Vielleicht sollte ich es mal aufräumen...
nein, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt.Wir sind auf irgendeinem Empfang gewesen, den mein Vater gegeben hat. Offensichtlich ist es in seiner Stellung als Oberbürgermeister in dieser Stadt unglaublich wichtig, dass er ständig sinnlose Feste feiert.
In der Französischen Revolution wäre er seinen Kopf damit auf alle Fälle losgeworden und auch ich hätte mich von dem tragischen Irrtum meiner Anwesenheit verabschieden können. Manchmal hat es echt Vorteile, die Tochter seines Vaters zu sein. Hätte ich vor etwa zweihundert Jahren gelebt!
Ich seufze gequält auf und richte mich vorsichtig auf. Die Langweile strömt aus allen Ecken des Zimmers auf mich ein. Die live Aufführung von Hamlet, die ich mir anschauen will, beginnt erst in knapp vier Stunden.
"Warum wollte ich nochmal schwänzen?", bemitleide ich mich selbst und rolle mich über die Bettkante.
Krach!
Der Bettvorleger ist überraschend hart. Dabei war meine Mutter bei der Auswahl besonders achtsam.Ich robbe quer durch das Zimmer zum Schrank und hieve mich unmotiviert hoch.
Zwischendurch lege ich lange Verschnaufpausen ein und starre immer den Fleck an, der gerade in meinem Blickfeld gelandet ist, sodass ich nur noch dreieinhalb Stunden Zeit verschwenden muss.Auf dem Weg habe ich mir sogar die überflüssige Mühe gemacht und das Kleid kunstvoll um meinen Fuß drapiert und mitgeschleift, sodass ich es jetzt mehr oder weniger sauber zurück in den Schrank hänge.
Um mein Selbstbewusstsein aufzuheitern, was nebenbei auch nur dann passiert, wenn ich wieder einmal feststelle, dass Langweile leider Gottes nicht tödlich ist, öffne ich die Tür weit und betrachte mein Spiegelbild skeptisch.
Ich mag es nicht, wie es mich anstarrt. Voller Genervtheit!
Die Einzige, die so gucken darf, bin ich!Basti hatte mir vor ein paar Jahren gesagt, wenn ich nur wollte, könnte ich eine zweite Megan Fox werden. Die Figur dazu hatte ich damals schon.
Auf dem Boden herumkriechen macht eben schlank, ich nenne es das Gollum-Work Out.Weil mein Gesicht mich ablenkt, hänge ich einen breiten Schal über die Tür.
Gut so!Automatisch nehme ich meinen Arm, drehe die Innenseite ins Licht und mustere die millimetergroßen Einstichlöcher im Ellenbogen.
Nein, ich nehme kein Heroin!
Obwohl mein Verhalten verrückterweise dem eines völlig Abhängigem gleicht.
Die Nadelstiche stammen von meinen zahlreichen Erfahrungen mit dem Blutspenden. Seit ich vor einer halben Ewigkeit als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft akzeptiert wurde, gehe ich öfters ins Blutspendezentrum.Es ist ein faszinierendes Gefühl zu wissen, dass die rote Flüssigkeit, die dir aus der Ader gemolken wird, schon bald in einen völlig fremden Körper wieder hineingepumpt wird.
"Was machst du da?"
Automtisch reiße ich erschrocken meine Augen auf und spüre, wie mein Puls einen Satz macht.
Das war es dann aber auch schon mit meiner Reaktion auf unerwarteten Besuch.Basti schlendert durchs Zimmer.
"Du hast Physik geschwänzt!", meinte er.
Oha, Captain Obvious!
Ach deswegen habe ich Stunden endloser Langweile bevorzugt. Niemand geht freiwillig zu Physik! Erst recht nicht, wenn er sich seine Entschuldigungen selber schreiben kann!"Was machst du da?"
Mit einem Ruck nimmt er den Schal weg.
Etwas in mir schreit empört auf, kreischt aus allen Poren, will mein Gesicht um jeden Preis wieder verdecken, aber ich schlage nur die Augen nieder und drehe mich zum Eindringling um."Bizeps!" Stolz spanne ich meinen Arm an. Das Jungchen grinst mitleidig.
Wie ist der Held eigentlich reingekommen? Ich bin allein zu Hause!"Das hier ist ein Bizeps!"
Gelassen demonstiert Basti seinen zugegeben ziemlich beeindruckenden Oberarm. "Wie dem auch sei, die Lehrerin war froh, dass du nocht wieder Unsinn machen konntest, wie ein nicht isoliertes Kabel in die Steckdose stecken zu wollen!""Ihr habt experimentiert?" Ich hätte doch hingehen sollen! "Sie hat es sich getraut, weil du nicht da warst!" Basti lässt sich nach hinten auf mein Bett fallen.
Er streckt sich lang aus, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und grinst mich an: "Warum hast du eigentlich geschwänzt?", hakt er nach. "Hamlet fängt doch erst in ein paar Stunden an!"Danke für die Erinnerung, Schwachkopf!
Ich schließe die Schranktür, vermeide dabei in den Spiegel zu sehen und komme zu ihm aufs Bett.
Basti reißt die Augen erschrocken auf, als ich mich rittlings auf seinen Schoß setze, aber das stört mich nicht weiter."Ich denke, ich habe ein Problem!", seufze ich und ruckel verlegen hin und her.
Basti atmet schwer unter meinem Gewicht:
"Du meinst, abgesehen von deiner Todessehnsucht und deiner Intolerant gegenüber dem persönlichen Freiraum?", keucht er."Ich denke, ich bin schizophren!"
Ich habe mich noch niemals in meinem Leben so unwohl gefühlt, als ich endlich festgestellt hatte, dass in meinem Kopf eine kleine Stimme hockt, die ich mir nicht erklären kann.
Und ich hasse Dinge, die ich nicht erklären kann!"Warum wundert mich das nicht?", ächzt Basti und ich trommel ihm auf die Brust:
"Ich hasse Sachen, die ein Mysterium für mich darstellen!", murre ich.
"Kannst du bitte von mir ruhtergehen?", fleht Basti mich an."So schwer bin ich nicht, du Memme!", schnaube ich. "Ich halte locker mein Idealgewicht!"
"Hätte ich auch nicht gedacht, aber du bist extrem schwer! Und du drückst mir auf die Blase!", jammert er weiter.
"Warum bin ich auf einmal schizophren?", überlege ich weiter. "Sowas kommt doch nicht einfach von irgendwoher?"Da fällt mir etwas ein.
"Wie sieht es eigentlich mir dir und Miss Supersportlich aus?", hacke ich nach.
Basti unterbricht seine Bemühungen, sich unter mir vorzuwälzen:
"Kerstin?", fragt er. "Sie steht definitiv auf mich?"
"Sie trägt Gürtel und behauptet, es wären Röcke!", kontere ich."Na und? Das Auge will auch was haben!" Basti grinst, bis ich meinen Hintern leicht anhebe und mich mit voller Wucht auf ihn zurückfallen lasse.
"Das Auge ist nicht das einzige Sinnesorgan!", füge ich hinzu und ignoriere seinen Schmerzenslaut."Geh runter von mir!" Bastis Stimme wird lauter. Ich glaube, er findet es das nicht ganz so witzig wie ich.
"Außer dem Auge gibt es noch das Ohr, die Nase, die Haut, die Zunge!", rede ich weiter und schaukel weiter."Sorry, aber um sie mit den anderen Sinnen zu erkunden hatte ich noch nicht genügend Zeit!", japst Basti unter mir.
"Geh bitte von mir runter!"
"Also hörst du ihr nicht zu?", hacke ich spöttisch nach.
"Ihre Stimme ist viel zu hoch!", verteidigt er sich. "Ich fange immer an, im Gedächtnis ab eins zu zählen!""Okay!" Ich stocke und halte in meinen Bewegungen inne.
Irgendwie muss ich mir beweisen, dass ich und nicht diese fiese kleine Stimme, die mich jetzt schon öfters zurückgepfiffen hatte, die Kontrolle über meinen Körper habe."Gehst endlich runter!", fleht Basti mich an. Ein Gedanke kommt mir, der wirklich nur aus meinem Kopf stammen kann.
"Nein!", ruft die kleine, feine Stimme und versucht, sämtliche Bremsen zu ziehen. "Tu's nicht!"
Aber da beuge ich mich schon zu Basti vor, sehe, wie seine Brauen sich kurz grübelnd zusammenziehen, als überlege er, was ich jetzt wieder vorhabe, rieche einen kurzen Hauch von seinem Aftershave, höre, wie er scharf die Luft einzieht, als ich seinen Kopf zu mir heranziehe und fühle seine warme Haut unter meinen Fingern und wie seine kleinen Härchen sich langsam aufstellen.Und dann küsse ich ihn.
Mit Zunge.
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Das Suizid-Dilemma
Teen Fiction"Wenn ich ins Gras beiße, will ich einen möglichst großen Abgang haben, mit Pauken und Trompeten. Am Besten ein ganzes Orchester! Niemand wird es nachvollziehen können, wenn ich mich einfach von der Brücke stürze!" Vera will sterben. So schnell wie...