Die Einzigen, die Vollmond lieben, sind verblödete Romantiker und Werwölfe. Jeder vernunftbegabte Mensch verabscheut ihn zutiefst, weil er mitten in der Nacht ins Fenster herein scheint und einem am Schlafen hindert.
Sowenig Gloria mir über sich verraten will, eins von den beiden muss sie sein, denn wegen ihr stand ich jetzt mitten in der Nacht an meinem Fenster im Schlafzimmer und sah nach draußen.
'Er sieht schön aus, nicht war?' Gloria klingt verträumt. Ich zucke mit den Achseln und sehe nach draußen.Der Mond hängt wie eine leuchtende Mozarellascheibe am Himmel, sein fahles Licht bricht durch das dürre Laub der Kastanie, die nicht weit weg am Wegrand steht. Die Schatten der Blätter bilden auf dem Asphalt groteske Figuren, von meinem Winkel aus betrachtet könnte man meinen, es strecken hunderte Zombies ihre Hände aus den Tiefen empor, wimmernd und ächzend, um nur ein Stückchen der Oberwelt zu erhaschen.
Gloria wendet meinen Blick wieder zum Mond. Langsam schließe ich mein Fenster auf und klettere auf den breiten Vorsprung.
'Hier draußen ist es etwas kühl!', murmelt Gloria und ich fröstle.
Langsam strecke ich meine Beine aus, lasse sie baumeln. Es tut gut, nicht den festen Boden unter mir zu haben. Der Rasen ist gut drei Meter entfernt. Ein leiser, kühler Wind kitzelt an meinen nackten Sohlen.'Ist es nicht schön hier draußen?', fragt Gloria verträumt. 'Wieso kann es nicht immer so sein?'
'Keine nervigen Geräusche, keine Menschen, stimmt, mir gefällt's hier!', nicke ich. Die Zombiehände geraten durch einen Windstoß in der Kastanie ins Chaos. Sie fuchteln wild durcheinander, grabschend und drängend, dann flauen sie wieder ab.'Wenn du jetzt springen würdest, ich würde dich nicht aufhalten!', sagte Gloria leise.
'Wenn ich jetzt springen würde, würde ich mir eine ganze Palette an komplizierten Knochenbrüchen zuziehen!', spotte ich. 'Es ist zu niedrig. Wenn, dann müsste ich es mit dem Kopf voran versuchen! Aber das hier ist nicht der richtige Ort und der richtige Zeitpunkt!''Was meinst du damit?', fragte Gloria überrascht. Ich lache auf:
'Wenn ich ins Gras beiße, will ich einen möglichst großen Abgang haben, mit Pauken und Trompeten. Am Besten ein ganzes Orchester! Niemand wird es nachvollziehen können, wenn ich mich einfach von der Brücke stürze! Wenn ich hier runterspringen und sterben würde, wäre ich nur ein dummes, verwöhntes Mädchen mit zuviel Selbstmitleid. Mein Tod soll einen Sinn haben, wenn mein Leben schon keinen hat!''Wieso denkst du, dein Leben hätte keinen Sinn?' Gloria klingt verwundert.
'Sieh es dir an! Nenne mir einen einzigen sinnvollen Abschnitt!'
Jetzt ist es Gloria, lacht. Oder vielmehr lächelt, so wie ihre Stimme klingt:
'Erstens, du bist noch viel zu jung um auf ein sinnvolles Leben zurückblicken zu können. Außerdem...' ihre Stimme wird ernster. 'Ich glaube, der Sinn des Lebens ist die Liebe. Du wirst von deinen Eltern abgründig geliebt und von so vielen anderen. Du bist ein guter Mensch, Vera! Du musst nur zurücklieben!'Ich schnaube leicht:
'Das sagst du einem asexuellen Soziopathen?'
'Du hast schizophren vergessen!", neckt mich Gloria. Ich schüttle den Kopf:
'Du bist nicht ich!', sage ich energisch. Sie ist zu gut um ich zu sein.
'Ich bin nicht du.', wiederholt Gloria. 'Wir waren uns einmal sehr, sehr ähnlich, aber das ist schon lange her!' Manchmal würde ich sie für ihre klugen Sprüche am liebsten ins Gesicht schlagen. Das geht nur leider nicht.
'Was heißt das schon wieder?', schimpfe ich.'Das Nachdenken werde ich nicht für dich übernehmen!', erwidert Gloria. 'Sieh es als Herausforderung! Denke über andere Leute nach. Ihre Schwächen, ihre Sehnsüchte, ihre Bedürfnisse!'
'Warum sollte ich?', frage ich spöttisch.
'Weil du es kannst! Bei mir tust du es doch auch!'
'Weil ich dir nicht ins Gesicht schlagen kann!', murre ich. Gloria schweigt.Ich überlege, ob das ein Sieg war, aber ich fühle mich nicht siegreich, sondern müde.
Nicht im physischen Sinn, eher eine Art von mentaler Müdigkeit. Meine Gedanken schwimmen in einer trägen Suppe vor sich hin. Der kühle Wind erreicht nur meine Füße und jedes Mal, wenn er über sie leckt, werden sie kälter. Mein Kopf dagegen bleibt warm und schwül.'Geh wieder rein, wenn du müde bist!', sagt Gloria schließlich. 'Du musst morgen arbeiten!'
Langsam hebe ich meine Füße an und umfasse die Zehen mit meinen Händen. Die Wärme trifft wie ein Schlag auf die kalte Haut und dringt wie kleine Äderchen weiter vor. Ich spüre, wie meine Hände kühler werden und lasse meine Füße los.
Etwas ungeschickt klettere ich zurück in mein Zimmer und schließe das Fenster wieder zu. Durch die dicken Glasscheiben sehe ich zum Mozarellamond.'Was meinst du, wir waren uns einmal sehr ähnlich?', frage ich schließlich. 'Wolltest du auch unbedingt sterben?' Ich zögere kurz: 'Bist du gestorben?' Bin ich etwa von einem Geist besessen?
'Nein!', unterbricht Glorias leise Stimme meine Gedanken. 'Ich wollte nicht sterben, ich wollte leben! Aber ich hatte keine Stimme!'
Ich seufze: 'Tja, das ist jetzt das Einzige, was du hast!'
Gloria schweigt wieder und ich entscheide, ins Bett zu gehen.
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Das Suizid-Dilemma
Teen Fiction"Wenn ich ins Gras beiße, will ich einen möglichst großen Abgang haben, mit Pauken und Trompeten. Am Besten ein ganzes Orchester! Niemand wird es nachvollziehen können, wenn ich mich einfach von der Brücke stürze!" Vera will sterben. So schnell wie...