10. Messer

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Ich sitze in meinem Bad in der Ecke und atme leicht angewidert die Ausdünstungen der Toilette neben mir ein.

Mein Blick hängt schon seit geraumer Zeit an einem blauen Plastikkasten ganz oben im Regal.
Da drinnen werden bei uns wichtige Sachen wie Medikamente, Pflaster, Mullbinden und auch Rasierklingen aufbewahrt.

Fragt mich nicht, warum meine Eltern sie da reingesteckt haben, vielleicht um die Mullbinden zu zerteilen, weil eine Schere ja so Mainstream ist.

Ich hatte sowas noch nie gemacht.
Ritzen, meine ich.
Ich habe es nie verstanden, warum Kinder, die sich selbst hässlich finden... sich einfach noch hässlicher machen.

Wenn mir jemand blöd kommt, lass ich es notfalls über mich ergehen und schmeiß ihm dann nachts mit einem Stein das Fenster ein. Oder ich geb Basti einen Zwanziger und der kümmert sich drum.
Gut, wenn man sich so einen Söldner leisten kann.

Naja, vielleicht sind nicht alle solche Genies wie ich. Und haben nicht so reiche Eltern, die dann meine Spuren verwischen und die Kosten für die zerbrochenen Fenster bezahlen, sollte ich denn einmal erwischt werden.

Aber heute denke ich ernsthaft über dieses Thema nach. Es hat weniger mit den Narben und den psychischen Belastungen zu tun, eigentlich weiß ich selbst nicht so genau, warum es machen will.

Trotzdem haben mich die Bilder inzwischen schon völlig in den Bann gezogen:
Die matte, scharfe Klinge, die sich langsam in die Haut bohrt, der süße, stechende Schmerz, wenn sie in das Fleisch eindringt und der entstehende, pochende Druck, wenn sie sich langsam durch den Arm zieht.

Das Blut, dass beim Absetzen der Klinge hervorquillt, rot, glänzend und dünnflüssig... ich stehe vor dem Regal, habe den Deckel abgenommen und starre in den Kasten, während mein Kopf weiterträumt:
...wie Rotwein, den man verschüttet hat.

Neugierig neige ich den Kopf, nehme die kleine Hartplastepackung heraus und lege Kasten und Deckel achtlos auf den Stuhl.
Aus dem kleinen, quadratischen Kästchen blinken mir, ordentlich aneinandergereiht, matte Klingen entgegen, gestochen scharf, wie um einen Schmetterling sezieren.

Ich nehme mit spitzen Fingern eine heraus und denke gleichzeitig darüber nach, was passieren könnte, wenn man diese kleine Klinge in verschiedene Körperteile stößt: Auge, Ohr, die Innenseite der Wange, die Zehennägel.

Unwillkürlich verkrampfe ich mich und schüttel diese Vorstellung von mir.

Das kleine Blättchen immer noch in der Hand, setzte ich mich auf den Klodeckel.

"Quer für Aufmerksamkeit, längs für Erfolg!", hallt mir Meg Griffins Stimme im Kopf herum. Eigenartig, dass eine Comedy-Serie solche Sachen vermittelt. Mir solls recht sein.

Längs oder Quer?
Nach kurzem Zögern setze ich die Spitze der Klinge vorsichtig an.
Erst quer.

Ich drücke die Klinge leicht gegen die Haut und sofort senkt sich das Metall in mein Fleisch.
Erschrocken reiße ich sie sofort wieder heraus.

Verdammt ist das schnell!
Das hat mich jetzt aus dem Konzept gebracht. Mir ist ja schon ganz schwindlig!

Wütend pfeffere ich die Klinge auf das Fensterbrett und lutsche an meiner Wunde, aus der inzwischen schon das Blut quillt. Da muss ich ja anatomisch tief geschnitten haben!

Ich beiße mir fest in den Arm, um den Schmerz von dem kleinen Schnitt abzulenken und wieder unterschätze ich meine Kraft und meine Zähne dringen tief ein.

Während ich meinen Arm noch im Mund halte, schreie ich los, mit vollem Mund natürlich.
So was muss auch immer nur mir passieren!

Jetzt habe ich Appetit auf Fleisch. Der metallische Blutgeschmack mindert dieses Verlangen auch nicht gerade. Vielleicht bin ich ja Kannibale.

Ich lutsche immer heftiger an der Stelle um den Schmerz zu betäuben, taumle unsicher durch das Badezimmer bis zu den Pflastern und stoße dabei die Klobürste um.

Erleichtert lasse ich meinen Arm los und reiße hastig den Schutz von einem pinken Nilpferdpflaster - die Menschen haben komische Ideen.
Seufzend betrachte ich den großen roten Fleck, der die Hälfte meines Arms einnimmt.

Dann sehe ich meine Bissspuren, verdrehe die Augen und suche nach Mullbinde.
Kurz überlege ich sogar, mir einen Gipsverband anzulegen, aber ich bin doch zu faul, um im Geräteschuppen nach dem Zeugs zu suchen.

Ironischerweise hätte ich heute einen Kurs in Erste Hilfe gehabt, bei dem meine Mutter mich angemeldet hatte.
Zu dumm, dass ich da nicht hingegangen bin! Dann hätte ich nicht diese bedeutsame Erfahrung machen können.

Aber etwas tief in mir ist sehr enttäuscht von mir.
Ich war auch noch zu blöd mich umzubringen!

Basti kommt am Abend nach und nach auf die Idee, dass der dicke Mullverband an meinem Unterarm nicht mit einem Ausrutscher im Blutspendezentrum zu tun hat und ich gestehe ihm meinen Fehlschlag.

"Macht nichts!", klopft er mir beruhigend auf die Schulter. "Ich wette, den Längsschnitt kriegst du dann hin!"

Das Suizid-DilemmaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt