Der Busfahrer ist genervt.
Wäre ich auch, wenn ich jeden Tag frühs aufstehen müsste, um kreischende Gören herumzufahren.
Weil Basti mir einmal gesagt hat, dass mein Lächeln Zombies killen könnte, verschone ich den Fahrer mit dem Anblick meines Pferdegebisses.
Auch wenn die Tante vom Zahnarzt gemeint hat, meine Beißerchen wären in exzellentem Zustand. Aber die wird auch dafür bezahlt.Mein Platz in der drittletzten Reihe ist noch frei. Schwerfällig lasse ich mich auf den harten Sitz fallen. Offenbar gehört der Bus schon zu den älteren Semestern, denen man den Gnadentod auf dem Schrottplatz verweigert hatte, was die fehlenden Haltegriffe, die kaputten Sitzbezüge und die kreativen Wandbeschriftungen erklären.
Heute widerstehe ich den Drang, die Kritzeleien besoffener Sechstklässler zu korrigieren, sondern krame mein Kopfhörer heraus und mache mich an die Lebensaufgabe, sie zu entwirren.
Anscheinend sind diese Teile doch eine Art Lebensform.Meine Schule ist ein alter Sozialistenbau, den seinerzeit Väterchen Stalin eingeweiht hatte.
Über die Hälfte unserer Lehrer trauern der guten, alten Zeit hinterher, als die Stasi noch fleißig alles mitgelauscht hat.
Ach, die Guten!Wenn man sich die Schüler in Jogginghosen, Hoodie und Turnschuhen mal wegdenken könnte, hätte diese Schule perfekte Ambitionen für ein Gefängnis:
Kahler Innenhof, Gitter an den unteren Fenstern, Stahlbänken und meterhohe Wände.
Man kann die Bildung deutlich spüren!Vermutlich hat die Gemeinde das Gebäude nur deswegen noch nicht abgerissen, weil sie Angst vor dem Geist des kommunistischem Schulleiters hat, der im 16. Jahrhundert hier eingemauert worden war.
Wie gesagt, besonders intelligenzbegabt ist die Gegend, in der ich wohne, eher nicht.Das Positive an der Schule ist aber, das sie Einen beim Eintritt nicht weiter enttäuscht.
Die ganze Einrichtung ist, kurz gesagt, scheiße.
Und damit meine ich nicht Hunde-, sondern ganz besonders große Elefantenscheiße!
Die Direktorin scheint regelmäßig mit dem gesamten Vorstand des TÜV schlafen zu müssen, um hiermit durchzukommen.Falls ihr mich nach meinem Stundenplan fragen wollt, ich habe keinen!
Wenn ich schon jeden Morgen gezwungen werde, in dieses Loch zu fahren, sollte ich wenigstens meine Unterrichtsfächer selbst bestimmen können.
In der Regel gehe ich immer in den nächstbesten Klassenraum und such mir irgendwo im mittleren Drittel einen Platz.Warum gerade im mittleren Drittel?
Meine Studien zeigen, dass alle Schüler das mittlere Drittel bevorzugen, da sie dort einseits relativ ungestört sind, andererseits aber auch notfalls aufpassen können.
Also raube ich mindestens einer dieser kleinen Plagen den Platz.Allerdings scheint der Typ, der sich demonstrativ neben meinen Platz stellt, eine größere Plage zu sein, denn er besitzt die beachtliche Größe von... ach keine Ahnung, er ist halt einen halben Kopf größer als ich!
"Alter, das ist mein Platz!", nuschelt er. Ich sehe ihn von unten gelangweilt an, den Kopf auf die Tischplatte gelegt.
"Waaaaas?", fällt meine Antwort genauso aussagereich aus. Übrigens das erste Wort, das ich heute mit jemandem gewechselt habe.Meine Selbstgespräche mit dem Essen haben niemanden zu interessieren!
Der bullige Typ, ich nenne ihn zum besseren Verständnis mal Friedensreich Hundertwasser, schaut mich böse an:
"Mein Platz!", bellt er. "Weg da!"
"Aus! Gib Pfötchen!", gebe ich zurück. Aber anscheinend hat die Tischplatte ungeahnte Auswirkungen auf meine Ausprache, denn es klingt ausgesprochen nicht halb so gut, wie in meinem Kopf.Friedensreichs Kopf läuft gerade beängstigend rot an, aber es ist kein schönes Rot, sondern eher ein fleckiges, als ob sein schwulstiges Gesicht unterschiedlich dicke Fettschichten hat, sodass die einen noch ein einem Gelbton glänzen, während die anderen schon fast vor zuviel Blutzufuhr platzen.
Er packt meinen Arm und versucht, mich so aus meinem rechtmäßig ergaunertem Sitz zu vertreiben, aber genauso gut hätte er eine Leiche vor sich haben können.
Wütend lässt er los und packt mich an meinen Schultern und versucht mich hochzureißen.Anscheinend weckt seine Aggression ungeahnte Kräfte, denn ich spüre, wie ich ungelenk an von hinten hochgezehrt werde und mein linker Schuh sich an dem Stuhlbein verhackt.
Noch ein Ruck, den der Schuh aber wacker aushält und Friedensreich gibt auf. Aber anstatt einfach loszulassen, krallt er meine Schultern fester und knallt mich heftig wieder auf den Platz, um mich mit einem Ruck nach hinten zu ziehen.
Mein Kopf fliegt in hohem Bogen zurück und mein Nacken knallte empfindlich auf die Kante der Stuhllehne, wobei ein lautes Knacken ertönt.Zum größten Überfluss war der Stoß so heftig, dass ich das Gleichgewicht verliere und inklusive Stuhl nach hinten falle.
Das Knacken von vorhin ist kein Vergleich zu dem Krachen, als mein Kopf gegen die Tischkante meines Hintermanns knallt.Und weil es noch nicht laut genug war, donnert mein geliebter Schädel am Ende des Sekundenbruchteile andauernden Falls von Stuhl und darauf sitzendem menschlichem Wesen mit voller Wucht auf den harten Boden.
Da liege ich also, im Staub, und blinzle träge zu Friedensreich hoch, der mich wie ein Ochse anglotzt.
Keine Sekunde später wird er am Kragen beiseite geschleudert und Basti, mein bester Freund und Kampfgefährte, kniet sich entsetzt neben mich."Bloß nicht bewegen, Vera! Bitte nicht bewegen!", sprudelt es aus ihm heraus. Mit seinem panischem Gesichtsausdruck ist er schon fast niedlich.
"Warum nicht?", maule ich verständnislos.
"Weil du sterben könntest!" Kaum haben diese Worte seine Lippen verlassen, scheint er sie aufrichtig zu bereuen.Ich sehe ihnauf einmal höchsr konzentriert an:
"Aber du bist dir nicht sicher?!"
Sofort hält er mir mit einer Hand den Mund zu und brüllt laut nach Verstärkung. Hinter den hässlichen Köpfen von anderen Mitschülern, sehe ich unseren Mathelehrer, sich hektisch durch die Maßen schiebend.
Ergebungsvoll recke ich ihm das Peace-Zeichen entgegen.Basti starrt mich wütend an.
"Wehe!", knurrt er drohend. Ich zwinkere mit beiden Augen. Beide von uns gehören jener Minderheit an, die weiß, dass das allgemein unter dem Namen 'Peace-Zeichen' bekannte Symbol im Zweiten Weltkrieg eine ganz andere Bedeutung hatte:
Victory - Sieg!Vorsichtig lockert sich Bastis Griff um meinen Mund etwas.
"Wenn du dir nicht hundertprozentig sicher bist...", fange ich an zu murmeln.
Seine Augen vergrößern sich, aber bevor er reagieren kann, stemme ich mich entschlossen hoch.Mein gesamter Kopf knirscht und kracht, aber ich lebe... immer noch! Verdammt! Auf Freunde ist keine Verlaß mehr! Wo sind die guten alten Zeiten wie bei Hamlet, wo einer den anderen verraten hatte?
Schnaufend rappel ich mich mühsam hoch. Basti ist inzwischen schon aufgesprungen und stützt mich vorsichtig.
Der Lehrer hat uns inzwischen erreicht und legt ein Donnerwetter los.
Als er seine Rede, die hauptsächlich aus Phrasen wie "Was ist Ihnen den bloß eingefallen...", "Sie hätten sterben können..." und "Warum um Himmelswillen haben Sie..." besteht, beendet hat, sehe ich ihn zerknirscht an:"Entschuldigen Sie bitte!", beginne ich mit demütig gesenktem Kopf.
"Aber ich bin emotional gerade etwas angeschlagen!"
Seine pädagogische Seite spitzt wachsam die Ohren:
"Warum denn?", fragt er väterlich. Ich ignoriere Bastis verzogenes Gesicht und breche in herzzereißendes Geheul aus:
"Mein Goldfisch ist vor einer Woche gestorben!"
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Das Suizid-Dilemma
Teen Fiction"Wenn ich ins Gras beiße, will ich einen möglichst großen Abgang haben, mit Pauken und Trompeten. Am Besten ein ganzes Orchester! Niemand wird es nachvollziehen können, wenn ich mich einfach von der Brücke stürze!" Vera will sterben. So schnell wie...