7. Bäume

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Es ist eines furchbaren Herbstages, als unser Biolehrer plötzlich beschließt, mit seiner bezaubernden Klasse eine Exkursion zu machen.

Niemand hat damit gerechnet. In der Regel verspricht er immer hoch und heilig, dieses Mal würde sie garantiert stattfinden und dann gibt es irgendein widerwertiges Miststück, dass sich ihm in den Weg stellt.

Entweder ist es der liebe Herr Schulleiter oder der Wettergott oder der miese Autoreparateur, der extrem inkompetent ist und nicht imstande ist, den Motor funktionstüchtig zu machen.

Also herrscht in der Klasse erst einmal ehrfürchtige Stille, als er uns verkündet, dass wir uns morgen wetterfest anziehen sollten. Dann wendet er sich der Tafel zu. Keine 'Wenn' oder 'Falls' oder 'Hoffentlich', er kritzelt einfach an die Tafel.

Die Klasse verharrt noch einige Minuten in abwartendem Schweigen, bis schließlich Einer nach dem Anderem anfängt, mitzuschreiben.

Auch ich schenke meine Aufmerksamkeit wieder der der Biologie, auch wenn sich lediglich das auf die ausgestopften Tiere zu meiner Linken bezieht.

Ich würde gerne wissen, was Menschen dazu bewogen hat, bereits tote Kadaver zu nehmen, sie auszuweiden und anschließend mit Chemikalien und Holzwolle zu präparieren, bis sie in der perfekten Pose erstarrt sind, in alle Ewigkeit.
Diesen Gedankengängen verdanke ich dann auch meine Bio-Noten.

Wie dem auch sei, wir finden uns am betreffendem Tag zur richtigen Zeit auf der Straße ein, da es in der Nacht ordentlich gewittert hat und ein Baum uns die Straße versperrt. Als ob er das mit Absicht geplant hätte.
"You shall not pass!"
Ja danke, Gandalf!

Mein Vater, der uns bis hierher gefahren hat, hält uns für Manns genug, dass wir alleine weitergehen können. Basti, der immer noch an diesen einen Tag mit dem Bach denkt, eher weniger.

Herrgott!
Der Bursche ist nachtragender als meine Klassenleiterin, die mir immer noch nicht verziehen hat, dass ich ihr vor vier Jahren aus Versehen vors Fahrrad gelaufen bin.

Um ehrlich zu sein, war das aber mit Absicht passiert. In den Filmen sah das Ganze so schmerzlos und einfach aus, also wollte ich das mal probieren.
Es hatte ja niemand ahnen können, dass die fette Frau auf dem Drahtesel meine neue Klassenmutti sein wird!

Auf alle Fälle wäre es Basti wesendlich lieber, wenn er uns mit Handschellen aneinanderketten könnte. So sah er jedenfalls aus!
Aber wenn Veras Papa gesagt hat, dass das klappt, dann klappt das auch und man widerspricht nicht! Erst recht nicht, wenn besagter Papa schon leicht angesäuert ist, weil sein heiliges Fahrzeug durch den Matsch gefahren ist.

Also traben wir brav los, Basti hält meine Hand fest in seiner.
Dabei legt er Siebenmeilenschritte hin, sodass er mich hinterherschleift und ich gar nicht diese wundervolle Natur bewundern kann, die sich uns hier ergibt!

"Sollten wir nicht besser Herrn (hier bitte Namen des Biolehrers einfügen, ich mache mir nicht die Mühe und merke mir Lehrernamen) Bescheid sagen?", frage ich schließlich, dezent außer Atem.

Das Leben ist kein Wettlauf sondern laut Yogibär ein Picknick!
"Wir sind eh gleich da!", meint Basti, der Experte in Sachen wie falsche Behauptungen aufstellen.

Ich bremse, so gut ich kann und setzte mich gekonnt auf den Hosenboden.
Basti bleibt prompt stehen und dreht sich zu mir um, als erwarte er, dass ich mich gerade einhändig erdrosselt habe.

"Ich lebe noch!", maule ich ihn an. Meine Güte, wer sollte sich den schon mit einer Hand erwürgen können? Ich wette, ein Asiate kriegt das hin. Die machen da bestimmt eine Sportart draus! Fragte sich nur, ob der Gewinner als Erstes oder als Letztes stirbt.

"Warum sitzt du?" Basti bleibt vor mir stehen. Interessante Frage.
"Ich genieße die Umwelt!"
Der Oberspießer von hinterm Bühl wartet mit gerunzelter Stirn drei Sekunden (ich habe mitgezählt!), dann zieht er mich ruckartig hoch.
"Fertig genossen!", grinst er und fängt meinen Schwung mit beiden Armen ab.

Ich löse mich von ihm und sprinte los.
Wenigstens etwas, in dem ich besser bin als er.
Meine Füße klatschen im Takt auf dem nassen Boden, während Basti hinter mir herhetzt.

Ich habe gut zehn Meter Vorsprung. Er hat von jeher eine langsame Reaktionszeit, braucht also zum Verdutzt schauen, sagen wir, zwei Sekunden, wenn er dann merkt, dass ich auch wirklich wegrenne, sind wieder drei vergangen und bis er sich umdreht und auch lostrabt nochmal zwei.

Also insgesamt sieben Sekunden, in denen ich schon fast auf Höchstgeschwindigkeit bin.
Und da er für den Anlauf dann noch länger braucht als ich, kann es wirklich erst auf zehn Meter kommen!

Ich bremse erst ab, als wir an einen Waldweg kommen. Wenn man die Schneise, die die schweren Waldfahrzeuge geschnitten haben, so nennen kann!
Basti hält nicht rechtzeitig an und knallt volle Wucht in mich rein. Wenigstens hält er mich noch fest, dass ich nicht hinfalle. Er sollte echt an seiner Reaktionszeit arbeiten!

"Lauf nicht wieder weg!", murmelt er in meine Haare. Er hält mich immer noch fest.
Mit beiden Armen umklammert und dicht an sich gezogen. Es wird mittlerweile unbequem, aber ich weiß, dass Basti gerne kuschelt, also lass ich ihn.
Er ist schon niedlich, wenn er sich Sorgen macht, selbst wenn es keinen Grund dafür gibt!

"Hier ist doch nichts Gefährliches!" Ich lasse ihn los und trete ein paar Schritte zurück. "Guck! Kein Strick oder Messer oder irgendwas! Nur frische, wilde Waldluft!" Ich breite die Arme aus und drehe mich im Kreis.

Basti sieht mich mit Hundeblick unter seinen dunkelblonden Strähnen an. Anscheinend habe ich ihn nicht überzeugt.

Seufzend steige ich auf einen Stapel frisch zubereiteter Baumstämme, der neben der Schneise liegt.
"Siehst du, keine einzige Gefahr!"

Gut, beim Klettern habe ich mir das Knie aufgeschrammt und mir ein Tarnkleid aus altem Laub übergeworfen, aber solange ich über Basti stehe, ist alles in Ordnung!
Stolz verschränke ich die Arme und sehe ihn befriedigt an.

"Mir kann hier nichts passieren, siehst du!" Heftig trete ich einen Stamm weg, der dann auch brav seinen Weg nach unten findet.
Durch den Druckunterschied verlagern sich die anderen Stämme und plötzlich macht Basti nicht mehr den Hundeblick.

Sondern den entsetzten 'Hilfe-ein-Mörder-geht-mit-dem-Messer-auf-mich-los' oder halt 'Vera-stürzt-sich-schon-wieder-in-Lebensgefahr'- Blick.

Ich zähle ruhig die Sekunden, die er braucht, um zu merken, dass ich gerade den halben Holzhaufen zum Einsturz bringe. Zwei. Überraschend!
Aber vielleicht habe ich mich verzählt. Das kann passieren, wenn man gerade kopfüber von einem nassen, rutschigem Stapel junger Stämme fällt.

Aber bevor ich aufpralle, zieht Basti mich weg. Also kracht nur mein empfindliches Gesäß auf den feuchten Erdboden.
"Das hätte maximal eine Gehirnerschütterung gebracht!", maule ich. Es war wirklich nicht gefährlich gewesen! Überall saftiges, grünes Unterholz, das meinen Sturz abgedämpft hätte.

Basti hält mich trotzdem wieder so lange fest, dass ich Angst habe, er wäre eingeschlafen. Oder in Ohnmacht gefallen oder so.
Aber dann rührt er sich und lässt mich langsam los.
"Komm!", sagt er. "Wir sollten nicht allzu spät kommen!"

*Zeitangaben ohne Gewähr und jeglichem Realitätsbezug*

Das Suizid-DilemmaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt