6. Brücke

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Es ist einer dieser typischen "Hey-lasst-uns-ausgehen-und-Müll-machen!"-Abenden.
Normalerweise verbringe ich solche Abende alleine zuhause und, seit ich sechzehn bin, mit einem Sechser Bier auf dem Sofa und ziehe mir einen Horrorfilm nach dem Anderen rein.

Sie sind genauso wenig realistisch wie unterhaltsam. Möglicherweise weil das Popcorn immer lauter als die Todesschreie der Charaktere ist.

Aber heute hat Basti mich dazu gebracht, mit ein paar Leuten, die weder er noch ich genauer kennen, durch die dunklen Straßen hinunter zur Brücke zu laufen.

Natürlich nicht, ohne mich vorher mit einer halben Flasche Wodka auszustatten.
Betrunken sei ich am gesellschaftsfähigsten, hat er gemeint. So Unrecht hat er damit nicht.

Durch den Alkohol steigert sich das Rauschen in meinen Ohren und ich höre nicht mehr, was die anderen in meiner Umgebumg so Hirnverbranntes sagen.
Außerdem ist es mitunter die einzige Möglichkeit, um mich zum Lachen zu bringen.

Jedenfalls marschieren wir in einem flotten Trupp von sieben Leuten die gewundene Straße hinunter zum Fluss.
Es ist so ziemlich der einzige Stadtteil, den ich mag.

Rein architektonisch betrachtet, bietet er von der Renaissance über den Barock bis zum Biedermeier alles.
Die Häuser an den Straßenrändern wurden frisch saniert und haben beeindruckende Stuckfassaden.

Das erklärt, warum hier so wenig Leute Selbstmord begehen.
Die Häuser sind einfach zu schön dazu.
Meistens gingen die Bewohner runter zum Fluss, um ihrem tragischen egozentrischem Leben ein Ende zu bereiten.

Niemand wollte diese sorgfältig gepflegten Straßen verunreinigen.
In den großen Mietshäusern, diesen grauen Bauten bei den Neubauten sieht das alles anders aus!
Da will man ja schon beim bloßen Anblick Hand an sich legen!

Basti hat wohl gemerkt, dass ich in Gedanken abgeschweift bin, er drückt mir die Flasche in die Hand.
So fürsorglich ist er selten.
Ich nehme wieder einen langen Schluck von dem ölig schmeckenden Gesöff, dann gebe ich ihm die Flasche zurück uhnd lehne mich müde an ihn.

Die unbekannten Leute um uns herum lachen nur und zeigen sinnlos in die Gegend, durch die sie torkeln.
Ich reiße mich von Basti los und fange an, sie herumzuschubsen.
Es macht Spaß!

Etwas weiter abwärts, neben der alten Zigarettenfabrik, ist eine kleine Brücke über den Fluß gespannt.
Sie ist noch neu und sieht ungewohnt sauber aus.
Das ist unser Ziel heute abend!
Die Brückenpfeiler wurden auf die einzige flache Uferstelle in der Innenstadt gebaut.

Wenn man schlau genug ist, um da hinunter zu kommen, kann man auf die gebogenen Pfeiler klettern, die in einem Bogen über das Wasser gespannt sind.

Ich war öfters da unten. Zum Beispiel, als ich noch Hundesitterin war.
Oder wenn ich meinem Vater Zigaretten geklaut habe und sie in Ruhe rauchen wollte.
Wirklich ein sauberes Plätzchen!

Ich gelange als Erste unten an.
Zwei geben auf, als sie es nicht schaffen, über die erste Mauer zu klettern. Wie gesagt, wenn man schlau genug ist!

Die anderen fallen mehr oder weniger drüber und landen unsanft auf dem sandigem Boden.
Ich schnappe mir Basti's Flasche, bevor sie zerbricht und nehme einen langen Zug.

"Die hat's drauf!", grölt einer der anderen. Er ist groß und hat lange blonde Haare.
Ich hasse Jungs mit langen Haaren! Entweder sieht es so aus, als würden sie sie niemals kämmen oder als ob sie gleich mit dem Bügeleisen drübergehen.
Also demonstriere ich die mir geläufigste Yoga-Übung "aufgehender Mittelfinger im Morgenrot" und trinke weiter.
Das Zeug ist echt bitter!

Irgendwie kommt es, dass wir alle nacheinander auf die Pfeiler steigen.
Basti hat seine leere Flasche wiedergekriegt und sie ordentlich an die Wand gestellt.
Spießer!!!
Als der Erste kurz vorm Runterfallen ist, springe ich.

Ich habe beim Aufprall das Gefühl, dass meine Schienbeinknochen die Beine von innen aufreißen und meine Fußknochen in tausend Stücke zersplittert sind.

Das ich dabei bis zum halben Oberschenkel in eiskaltem Wasser lande und der Grund aus Sand und Morast besteht, ist genauso wenig hilfreich.
Ich schaffe es, das Gleichgewicht zu halten und wate ans Ufer.
Dort erwartet mich Basti.

Ich erinnere mich dunkel daran, beim Sprung seine entsetzte Stimme gehört zu haben, aber als ich sein geschocktes Gesicht sehe, muss ich einfach anfangen zu lachen.

Basti zerrt mich ohne Worte nach oben.
Ich glaube, er ist nüchtern. Langweilig!
Die anderen Affen kommen auch langsam zurückgeklettert und wir gehen wieder nach oben.
Ich stelle fest, dass meine Schuhe erstens nass und zweitens zu schwer sind und nehme sie in die Hand.

Ich fühle mich leicht.
Möglicherweise ist es der Alkohol, denn inzwischen bin ich genauso laut wie die anderen und dieser Langhaardackel wirkt inzwischen ziemlich attraktiv!

Ich laufe los und bleibe erst mitten auf der Brücke stehen.
Der Wind ist verhältnismäßig warm, sodass ich mich mit ausgebreiteten Armen drehe.

"Yeeyyy!", rufe ich laut. Meine Schuhe flattern im Wind und sind unnützer Ballast. Also lasse ich sie ohne anzuhalten los und sehe, wie sie auf die schwarze Wasserfläche zusegeln und von ihr verschluckt werden.

"Coool!" Auf dem Wasser zeichnen sich keine Kreise ab, nichts erinnert an die 10€-Ballerinas von Deichmann.
Nur meine Füße werden langsam kalt!

Ich beuge mich weit über die Brüstung und merke, wie mein Kopf vom Blut vollgepumpt wird. Alle Gedanken werden verdrängt und ich spüre nur noch die Schwere über meinen Schultern.

Schließlich lehne ich mich weit zurück, um genau das Gegenteil zu erreichen, dann klettere ich ungeschickt auf das Geländer.

"Ich bin freeeeii!"
Mit ausgebreiteten Armen balanciere ich weiter, auf der einen Seite der harte Asphalt, auf der anderen das ein Meter hohe Wasser ungefähr fünf Meter unter mir.

"Vera!"
Basti schon wieder! "Vera, bitte komm runter!"
"Aber ich bin doch frei!"
Alles, was ich denke, sage ich auch! Eine interessante Entwicklung!
"Bitte, sonst fällst du noch!" Basti lässt nicht locker.

"Aber ich will doch fallen! Guck mal, dann fliegst du kurz und dann ist alles vorbei!"
"Nein, ist es nicht! Für mich ist nicht alles vorbei!"

"Aber du bist unwichtig, Basti!"
Ich glaube, ich habe ihn verletzt.
Mir egal! Er steht zwischen mir und der Erfüllung meiner Wünsche:
Ruhe! Absolute, entgültige Ruhe!

"Bitte!" Basti steht jetzt neben mir. Er ist kleiner als ich. Also hocke ich mich hin.
"Ich weiß, die Welt ist dir egal, aber du bist mir nicht egal! Also komm!"
Ich sehe ihn zögernd an und finde seine Augen niedlich.

"Du kannst mir meine Träume nicht erfüllen!", sage ich.
Basti streckt die Hand aus und umfasst vorsichtig meine Taille.
"Aber ich werde es versuchen!"
Ich lasse vorsichtig das Geländer los und gestatte, dass sein anderer Arm durch meine Knie fährt.

"Versprochen?", frage ich, als er mich runterhebt. Irgendwie fühle ich Schmerz. Und Trauer. Ich hätte fliegen sollen!
Basti hält mich für einen Moment in seinen Armen.
"Versprochen!", sagt er.

Das Suizid-DilemmaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt