Erster Schnee
Der Herbst geht zu Ende, die Tage werden kürzer und die Nächte kühler. Mara hat inzwischen ihre Eier gelegt. Dafür webte sie einen Kokon aus ihrer feinsten Seide und hängte ihn ganz oben in den Dachfirst, an eine Stelle, wo den kostbaren Spinneneiern nichts geschehen kann. Jeden Abend, bevor Teri ausfliegt, kontrolliert er, ob es den Eiern auch wirklich gut geht. Er hat Mara fest versprochen, auf ihren Nachwuchs Acht zu geben. Teri nimmt diese Aufgabe sehr ernst, vor allem, weil neuerdings auf dem Dachboden ungewöhnlich viel Betrieb herrscht.
Mara machte Teri den Vorschlag, all seine Fledermausverwandten in ihren Dachstock einzuladen. Es brauchte nicht viel Überzeugungskraft, um die Kolonie zum Umzug zu bewegen. Hier haben die Zwergfledermäuse mehr Platz und außerdem besteht nicht die Gefahr, dass das Haus mitten im Winter von den Menschen umgesägt wird. Es besitzt zudem ein gutes Dach.
Obwohl Teri glücklich ist, endlich seine Familie gefunden zu haben, muss er sich zuerst noch an das fröhliche Treiben gewöhnen. Manchmal wird es ihm beinahe zu viel. Dann verzieht er sich in die Ecke, wo Mara ihr letztes Netz aufgespannt hat. Sie hat nach dem Eierlegen aufgehört zu fressen und Teri weiß, dass sie jetzt nicht mehr lange leben wird.
«Hallo Mara, wie geht es dir?»
«Mir geht es gut, Teri. Aber du solltest dich mit deinen Freunden vergnügen, nicht mit einer alten Spinne wie mir zusammensitzen.»
«Du bist meine beste Freundin, Mara. Wir haben diesen Sommer so viel zusammen erlebt!»
«Ja, das war ein interessanter und aufregender Sommer. Wer hätte das gedacht, als du letzten Winter halb erfroren und völlig zerzaust hier hereingeplatzt bist.»
Teri muss lächeln, wenn er daran denkt, dass er sich damals fast ein wenig vor der mürrischen Spinne fürchtete. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass Mara unter dem schroffen Äußeren ein warmes Herz besitzt. Er kann sich den Dachboden nicht ohne sie vorstellen.
«Ich werde dich sehr vermissen, Mara.»
«Versprich mir, dass du nicht traurig bist, Teri. Bald ist es Winter, bis dahin musst du genug fressen, damit du bis zum Frühling schlafen kannst. Wenn du aufwachst, wird deine Freundin Siva bald zurückkehren. Außerdem werden meine Spinnenkinder aus ihren Eiern schlüpfen und in die Welt hinausziehen. Grüß sie bitte alle herzlich von mir! Willst du das für mich tun?»
Natürlich will Teri das. Er verspricht Mara, dass er auf ihre Jungen aufpassen wird. Schließlich hat sie ihm auch geholfen, als er damals allein war und ein Quartier brauchte.Bald fällt der erste Schnee. Teri hat Mara schon lange nicht mehr gesehen und er weiß, dass seine Spinnenfreundin nicht mehr zurückkommen wird. Der seidene Kokon mit ihren Jungen klebt aber immer noch ganz oben am Firstbalken, wo ihm nichts passieren kann. Bevor Teri sich für den Winterschlaf bereit macht, kontrolliert er ein letztes Mal, ob es den Eiern auch wirklich gut geht. Ob die jungen Spinnen wohl auch so klug und mutig wie Mara sind? Ob er unter ihnen auch wieder Freunde findet? Auf jeden Fall nimmt er sich fest vor, die kleinen Spinnen zu beschützen, bis sie groß genug sind, sich selber in der Welt zurechtzufinden.
Teri gähnt und sucht sich ein Plätzchen zwischen den anderen Fledermäusen. Die meisten haben schon mit dem langen Winterschlaf begonnen. Ein Fledermausmädchen blinzelt Teri verschlafen zu und rückt etwas zur Seite, damit er genug Platz hat. Teri hängt sich in die Lücke und faltet seine Flügel ordentlich zusammen. Bevor er die Augen schließt, wirft er einen letzten Blick auf Maras Eierkokon. Dann lässt auch er seine Augen zufallen.
Die Fledermäuse hängen dicht beieinander und halten sich gegenseitig warm. Es ist gemütlich hier im Dachstuhl, wenn draußen Schnee fällt und alle Geräusche der Menschen verschluckt. Teri fragt sich, wie es wohl Siva im fernen Afrika ergeht. Ob sie dort glücklich ist? Bestimmt sieht sie viele interessante Dinge, von denen sie ihm im Frühling berichten wird. Und er kann ihr dann Maras Kinder vorstellen. Er stellt sich den Dachboden übersät mit winzigen Spinnennetzen vor. In jedem Netz sitzt eine kleine Ausgabe von Mara. Teri freut sich darauf, mit Siva, Hiro und seinen neuen Fledermausfreunden um die Wette zu fliegen, auf den Vollmond, der sich im See spiegelt und den Gewitterregen, der aufs Dach prasselt. Er nimmt sich vor, Kona, die Kröte zu besuchen und vielleicht sogar Hibu, den Waldkauz. Und natürlich will er Maras Kindern erzählen, wie ihre Mutter für Siva Fliegen gefangen und den gefährlichen Marder verjagt hat. Teri merkt nicht, wie ihn der Schlaf übermannt und ihm Träume von Mara, Siva und dem Frühling bringt.
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Teri und Siva
AventuraDie Fledermaus Teri lebt allein in einem alten Dachstock. Die Erzählungen der Spinne Mara wecken Teris Neugier auf das Leben am Tag. Als er die verletzte Schwalbe Siva kennenlernt, ergreift er die Gelegenheit, endlich bei Tageslicht auszufliegen. Ab...