The End is where we start from

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„Hi", sagte Ava, als Anwen nach der Begegnung auf dem Flur wieder in ihr Zimmer kam.
Sie hatte offensichtlich schon eine Weile auf dem Stuhl neben dem Bett gesessen und auf Anwen gewartet.
„Du nimmst das wirklich sehr genau mit den täglichen Besuchen, was?"
„Wenn es dir zu viel ist, sag es..."
Anwen spürte einen Stich in der Magengegend. Sie konnte nicht sagen, ob er von einem schlechten Gewissen herrührte oder der Befürchtung, Ava zu vergraulen.
Sie schüttelte den Kopf. „So meinte ich das gar nicht. Du bist einfach sehr... diszipliniert und zuverlässig. Kein Wunder, dass meine Eltern so vernarrt in dich sind."
Etwas in Avas Blick veränderte sich. Aber Anwen konnte es nicht deuten.
„Wie geht es dir heute? Ich habe gehört, du darfst bald nach Hause", Avas Gesicht hellte sich auf.
„Hmmm, ja, glaube schon."
„Werden deine Eltern dich abholen?"
„Was?"
„Ich dachte nur, für den Fall, dass deine Eltern arbeiten müssen. Ich kann dich auch nach Hause bringen. Ich habe flexible Arbeitszeiten."
„Ich weiß nicht. Ich habe noch nicht mit ihnen darüber gesprochen."
„Kommen sie heute vorbei?"
„Glaub schon."
„Dann frag sie", Ava zog ein Kärtchen aus einem kleinen Etui hervor, „Falls sie nicht können, ruf mich an", sie notierte etwas auf der Rückseite, „Unter dieser Nummer erreichst du mich auch auf Arbeit. Bitte denk nicht darüber nach, ob es okay ist – es ist okay!"
Sie reichte Anwen die Karte, dann warf sie einen Blick auf ihr Smartphone. „Tut mir leid, ich muss schon wieder los."
Auf ihrem Weg hinaus, ging sie so dicht an Anwen vorbei, dass sie ihren Arm fast streifte. Anwen konnte die Wärme spüren, die Avas Körper ausstrahlte.
„W-warte...", brachte Anwen ungewohnt zögerlich hervor.
Ava stand schon in der Tür, ihre Hand auf halbem Weg zum Sensor, der sie öffnete. Sie drehte sich noch einmal zu Anwen um und sah sie fragend an.
„Danke... für alles!"
Ava lächelte, „Gern geschehen!"


Lauf..., schrie eine Stimme in ihrem Kopf.
Lauf..., war alles, was sie denken konnte.
Lauf..., sie wusste, dass etwas passieren würde.
Lauf..., aber ihre Beine waren bleischwer.
Lauf, um dein Leben!

Anwen schreckte hoch. Diffuses Licht breitete sich durch die dünnen Vorhänge hindurch im Krankenzimmer aus.
Seit dem Überfall hatte sie diese Albträume. Jede Nacht. Immer der selbe Traum, jedes Mal nur ein ganz klein wenig anders. Ein Déjà-vu.
Sie rannte und rannte. Jemand oder etwas war hinter ihr her. Ihr ganzer Körper war schwer und träge. Ihre Bewegungen waren unendlich langsam. Doch sie wusste, dass sie schneller laufen musste. Sonst würde etwas geschehen. Sie wusste nicht, was es war. Aber es musste schlimm sein. Sehr schlimm.
Sie hatte schreckliche Angst. Und in ihrem Kopf hörte sie eine vertraute Stimme – Avas Stimme. Sie klang nicht panisch. Sie war bestimmt und pragmatisch. Ein Befehlston.
Anwen setzte sich im Krankenbett auf und fuhr sich mit einer Hand über ihr Gesicht.
Sie holte das Kärtchen aus ihrer Tasche, die auf Avas angestammtem Platz lag, und drehte es zwischen ihren Fingern hin und her.
Sie war es nicht gewohnt, dass jemand, der bis vor kurzem noch völlig fremd war, so viel für sie tat.
Ava war jeden Tag bei ihr im Krankenhaus gewesen. Sie hatte immer etwas mitgebracht und Anwen oft für ein paar Stunden Gesellschaft geleistet.
Mittlerweile kam Ava ihr gar nicht mehr fremd vor. Trotzdem wusste Anwen fast nichts über ihre Retterin.
Sie wusste nicht, wo Ava arbeitete – nur, dass sie flexible Arbeitszeiten zu haben schien. Sie wusste nicht, woher Ava kam, ob sie Familie in Cardiff hatte oder wie alt sie war. Hatten sie über all das gesprochen und sie hatte nur nicht aufmerksam zugehört?
Worüber genau hatten Sie gesprochen, wenn Ava sie besuchte?
Anwen starrte auf die Visitenkarte. Sie konnte sich Avas Gesicht genau vorstellen.
Ihre dunkelbraunen langen Haare. Die olivefarbene Haut und die vereinzelten Sommersprossen auf ihren Wangen und ihrem Nasenrücken. Ihre klaren, blauen Augen mit den dichten schwarzen Wimpern und dem makellosen Lidstrich.
Anwen erinnerte sich genau daran, wie sich Avas Gesicht veränderte, wenn sie lachte. Zwei kleine Grübchen bildeten sich dann unterhalb ihrer Mundwinkel und tauchten manchmal auf, wenn sie über etwas nachdachte.
Sie hatten viel zusammen gelacht in den letzten Tagen.
Und ihre Eltern schienen Ava zu mögen.
Anwen betrachtete die Adresse auf der Karte und die Nummer, die Ava notiert hatte. Sie hatte ihre Eltern nicht gefragt. Als Ava ihr das Kärtchen gegeben hatte, war die Entscheidung bereits gefallen. Sie wollte, dass Ava sie am Tag ihrer Entlassung abholte und nach Hause brachte.
Als sie die Karte wieder zurücksteckte, ertastete sie das kleine Päckchen, das ihre Mutter ihr gegeben hatte, an dem Abend, als sie Toshiko Satos Abschiedsvideo entdeckt hatte. Anwen wog es in ihrer Hand und betrachtete es lange, bevor sie es schließlich auspackte. Zum Vorschein kamen drei Rollen Klebeband. Erst, als sie diese genauer untersuchte, konnte sie erkennen, dass sie nicht fabrikneu waren. Der transparente Streifen war schon einmal abgewickelt worden. Und als sie noch genauer hinsah, konnte sie eine haarfeine Struktur in dem Trägermaterial erkennen.
Vorsichtig wickelte sie die Rollen wieder in das Packpapier und verstaute sie ganz unten in ihrer Tasche.

TORCHWOOD: The Anwen Cooper FilesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt