Normalzustand?

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HERMINE

Ich stehe in den Gewächshäusern mit einem Notizblock in der Hand und versuche verzweifelt Professor Sprout zu folgen. Sie zählt eine Menge botanischer Pflanzennamen auf, dazu die Arbeitsschritte die nötig sind, um die entsprechenden Gewächse für ihr Winterquartier vorzubereiten- plus die Risiken dieses Vorhabens.
Ich bekomme kaum die Namen zu Papier, meine Gedanken driften immerwieder ab.
Zu meiner bleiernden Müdigkeit gesellen sich Kopfschmerzen.

Heute Morgen wurde ich von Professor McGonagall auf dem Korridor angehalten und zu meinen Extracurricularen Aktivitäten befragt. Ich gab zur Antwort, dass ich noch keine ausgewählt hätte, was sie sehr zu überraschen schien.

Anschließend wurde ich in Professor Binns Unterricht ermahnt weil ich unaufmerksam war.
Ich hatte nicht aufgepasst. Dabei ist "Geschichte der Zauberei" eines meiner Lieblingsfächer.
Meine Mitschüler schien das nicht sonderlich zu wundern.
Cluthbert Binns Unterricht hat noch Jeden zum Einschlafen gebracht. Ich erinnere mich dass Ron einmal sagte, er habe mehrfach überlegt einfach aus dem Fenster zu springen vor Langeweile

"Hermine," Parvati zupft an meinem Ärmel, ihre Stimme nur ein Flüstern.
Erschrocken blicke ich auf...und direkt ins Gesicht einer sehr ungehaltenen Professorin Sprout.
"Miss Granger, ich frage sie jetzt bereits zum zweiten Mal um welche Pflanze es sich HIER handelt!"
Sie deutet auf das Regalbrett rechts von uns, direkt an der Fensterfront. Das Gewächs hat keine sichtbaren Blüten, an den Stielen befinden sich trockene Stellen, vermutlich dort wo bereits Blätter und Stengel entfernt wurden oder abgefallen sind. Der Rest ist dunkelgrün, die Blätter rundlich und wolkenförmig. Es erinnert mich an etwas, aber ich kann meine Gedanken nicht fokussieren. Ich schließe kurz die Augen um mich zu konzentrieren. Es funktioniert nicht.
"Ich, ich bitte um Entschuldigung Professor. Ich weiß es nicht!"
Professor Sprout wirft mir noch einen letzten Blick zu bevor sie sich abwendet und "Longbottom?" ruft.
Ich höre gerade noch wie Neville antwortet dass es sich um eine "Fangzähnige Geranie" handelt, was ich mir notiere. Er sagt auch noch andere Dinge über die Verbreitung und die Nutzungsmöglichkeiten der Pflanze, aber ich kann sie nur anstarren.
Geranie
Meine Mutter hatte immer Geranien in den Blumenkästen vor unserem Küchenfenster und auf dem Balkon. Sie hatte diese Pflanze furchtbar gern. Jedes Jahr kaufte sie so viele davon dass sie beinahe aus den Töpfen quollen. Und sie wuchsen wie verrückt bei ihr.
Sie besaß ein Exemplar in knallpink dass sie jedes Jahr sorgsam beschnitt und vermehrte um es anschließend  in dem winzigen Kellerabteil unseres Wohnhauses überwintern zu lassen.
Gott ich vermisse meine Mom.
Ich sehe sie vor mir an dem winzigen, klapprigen Pflanztisch den sie eines Sonntags auf einem Flohmarkt gekauft und in unsere Wohnung geschleppt hatte. Sie hatte sich laufend über den Tisch beschwert aber immer wenn Dad ihr einen besseren schenken wollte, gelacht und gesagt: "Ach lass doch. Du weißt ich liebe dieses Möbelstück!"
Mir kommen die Tränen. Normalerweise kann ich die Gedanken an meine Eltern gut beiseite schieben. Ich bin schließlich daran gewöhnt lange von ihnen getrennt zu sein.
Aber lange ist nicht "für immer".
Parvati zupft wieder an mir.
"Komm Hermine. Wir arbeiten zusammen,"sagt sie und nimmt mich mit zum Werkzeugschrank wo sie mir einen Eimer in die Hand drückt und diverse Utensilien hineinsammelt.
Offenbar sollen wir eine "Fangzähnige Granie" auf den Winter vorbereiten. Ich vermeide es Parvati anzusehen, die ihrerseits betreten schweigt. Ich weiß nicht ob sie sich generell fragt ob mit mir etwas nicht stimmt oder ob sie denkt sie hätte irgendetwas falsch gemacht. Manchmal fühlen sich Menschen mit mir so. Zumindest wurde mir das gesagt. Aber wahrscheinlich ist das nur dann der Fall wenn ich irgendetwas vermeindlich kluges im Unterricht von mir gebe oder irgendwelche Anschlussfragen habe...gerade komme ich mir eher wie ein absoluter Trottel vor und das Schweigen ist mir peinlich.
Bei unserer Pflanze angekommen breitet Parvati unsere Werkzeuge aus und beginnt.
Ich atme tief durch, lächle sie an und forme ein "Danke" mit den Lippen. Sie lächelt zurück und nickt.
Und gerade als sich wieder eine Erinnerung an meine Mutter vor mein Inneres Auge schieben will, spüre ich einen scharfen Schmerz in der rechten Hand. Erschrocken schreie ich auf und starre an mir herunter.
Offenbar hatte die "Fangzähnige Geranie doch noch irgendwo Blüten, denn in der Haut zwischen meinem Daumen und meinem Zeigefinger hat sich eine grellgelbe Blüte festgebissen und kaut.
Ich breche in Tränen aus und Parvati ruft aufgeregt nach Professor Sprout.
Bereits während sie noch auf dem Weg zu uns ist, spricht sie eine Formel und lässt ihren Zauberstab nach vorn schnellen, so dass die Pflanze zumindest zu kauen aufhört. Bei uns angekommen drückt sie auf einen bestimmten Punkt am Stiel der Blüte und ich bin frei.
Die Wunde blutet und sieht schlimm aus.
Ich bin starr vor Schreck. Die Schmerzen sind erstaunlicherweise erträglich, der Schock ist es nicht. Ich kann nicht aufhören zu weinen.
Professor Sprout greift nach meiner Hand und wirft einen Blick darauf.
"Sie werden es überleben Miss Granger. Aber Sie müssen Madame Pomfrey einen Besuch abstatten fürchte ich. Sie können gehen!"
Sie reicht mir ein sauberes Tuch aus dem Verbandskasten, dass sie fest auf die Wunde presst.
"Möchten Sie dass jemand sie begleitet Miss Granger."
Ich schüttele den Kopf.
"Nein Danke Professor. Es geht schon."
Mit diesen Worten und einem hochroten Kopf verlasse ich die Gewächshäuser.

Madame Pomfrey versorgt meine Wunde und gibt mir einen Heiltrank.
Ich konnte erst aufhören zu weinen und berichten was genau passiert ist, nachdem sie mir ein Beruhigungsmittel gegeben hat.
Jetzt sitze ich da und achte darauf tief ein und auszuatmen.
Eine Entspannungstechnik aus dem St. Mungos. Man atmet immerwieder bewusst ein und aus, nur um zu spüren dass es geht. Dass immer noch ein Atemzug kommt, dass der Moment vorbeigeht der den Stress ausgelöst hat.
Ich sehe auf die Uhr. Zur letzten Stunde schaffe ich es noch. Madame Pomfrey hat meinen Blick gesehen und schüttelt den Kopf.
"Sie gehen jetzt schön auf ihr Zimmer und schlafen Miss Granger. Lassen sie sich heute Abend etwas zu essen mitbringen. Kein Unterricht mehr für Sie. Morgen ist auch noch ein Tag."
Ich schaue auf meine sorgfältig verbundene Hand.
"Das wird einige Tage wehtun. Die Wunde ist ausgefranst und steht unter Spannung. Versuchen Sie die Hand ruhig zu halten."

Als ich meine Zimmertür hinter mir schließe bin ich seltsamerweise erleichtert. Noch eine Stunde Unterricht hätte ich nicht durchgehalten, soviel weiß ich.
Ich lasse meinen Blick über den Schreibtisch neben meinem Bett gleiten. Er ist voller Bücher und Unterrichtsnotizen, wie immer.
Aber es ist nicht wie immer.
Ich versinke nicht mehr völlig in meiner Arbeit wenn ich dort sitze. Ich schrecke nicht plötzlich hoch und bemerke dass es schon dunkel ist und ich gleich das Abendessen verpasse. Stattdessen sitze ich da und starre vor mich hin. Ich verliere mein Interesse und habe keine Ahnung mehr was mich fesselt.
Ich denke ständig über die Reise nach dem Abschluss nach, die zu Beginn des Schuljahres nur eine Idee von mehreren war. Jetzt habe ich das Gefühl sie ist das Einzige was noch zählt. Weg! Nur weg von hier!
Dabei wollte ich unbedingt wieder herkommen. Ich hätte nicht gemusst. Das Trainingsprogramm im Ministerium hätte mir genauso offen gestanden wie Harry und Ron.
Aber Hogwarts ist mein zu Hause und eine gute Schülerin sein ist alles was ich kann.
Was bleibt ohne meine Strebsamkeit und meinen Fleiß von mir übrig. Und wo gehöre ich hin, wenn nicht hier her?!

Mit einem wütenden Schrei fege ich meinen Schreibtisch leer.

Alles Was Wir SindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt