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Greta

Kaum zu glauben, aber die einzig verbliebene Pfütze hatte sich tatsächlich als ein Portal herausgestellt. Erst nach mehrfachem Fragen wie ich mich fühlte, hatte sie mich am Nachmittag dorthin geführt. Es war kein weiter Weg gewesen, sie befand sich nur wenige hundert Meter hinter ihrer Hütte.

Der Inhalt dieser sehr speziellen Pfütze, die übrigens laut Helen an diesem Ort niemals austrocknete, war nicht wie Wasser gewesen, sondern wie ein tiefes Loch. Man sprang kopfüber hinein, aber kam stehend wieder woanders heraus. Als stülpte sich die Welt um, und das in Sekundenschnelle. Ich hatte keine Ahnung wie, es war viel zu schnell gegangen.

Hier, an unserem Zielort, schien nun die Sonne. Sie löste den grauen Nebel ab, welcher das Gebiet um die Wiese seit dem frühen Nachmittag umhüllt hatte, und tauchte die Gegend in ein morgendliches Licht.

Das hier war eindeutig weit weg. Hier gab es noch nicht einmal denselben Tag-Nacht-Rhythmus. Bei der Hütte war es auch schon viel später gewesen. Das hier, war eine andere Zeit.

Es musste eine spätere Zeit sein, denn hier gab es befestigte Wege, Straßen, Laternen, all die Dinge, die eben in ein Dorf gehörten.

Helen hatte einen anderen Weg eingeschlagen, mit den Worten sie hätte noch etwas anderes wichtiges zu erledigen.

Also sah ich mich zunächst alleine in dieser neuen Zeit um. Die Bäume am Straßenrand warfen Schatten, doch ich tat das nicht wirklich. Ich steckte meine Arme in jede Himmelsrichtung einmal aus, doch ich hatte immer einen viel schwächeren Schatten, als alles andere, einen kaum sichtbaren. Dann bedeutete das wohl, dass das hier war nicht die Zeit sein konnte, aus der ich ursprünglich stammte. Auch wenn mir diese Umgebung schon viel wirklicher vorkam.

Ich folgte zunächst einfach dem Fluss des Wassers in den schmalen Rinnen des Straßenrandes, welches sich unter anderem durch eine beträchtliche Menge an modrigen, zusammengefallenen braunen Blättern an einigen Gullys aufstaute.

Regenwasser spielte eine entscheidende Rolle in meinem Leben, also warum sollte es mir nicht auch die Richtung weisen?

'Weil so etwas nur in deiner lebhaftesten Fantasie passiert?!', schrie die Logik dagegen.

Doch einen besseren Plan hatte ich ohnehin nicht, also wohin sollte ich sonst gehen. Außerdem hatte ich heute schon die Zeit gewechselt und etwas über Magie erfahren, wieso sollte dieses Wasser, so dreckig es auch war, dann nicht magisch sein? Wenn ich heute etwas maßgebendes gelernt hatte, dann dass die Logik die Wirklichkeit verleugnete.

Ich lief lange, tief in Gedanken versunken, ging immer wieder neue Straßen, folgte dem Wasser. Menschen traf ich keine. Seit Helen mich verlassen hatte, war ich allein mit mir und den Fragen, die sich in meinem Kopf tummelten. 

An einer Wegkreuzung entdeckte ich dann schließlich doch jemanden. Obwohl ich nicht allein sein wollte, wusste ich doch nicht, wie ich anderen Menschen begegnen sollte. Wie sahen sie mich? Wie wirkte ich auf irgendjemanden Fremden? 

Unsicher blickte ich schließlich auf und dann sah ich ihn. Es war nicht einfach irgendjemand mit einem Belanglosem Anliegen an einem verregneten Tag. Es war dieser seltsame Junge mit dem kleinen Mädchen. Und die beiden warfen normale Schatten, auf dem noch nass glänzenden Asphalt.

Ich hatte doch erst gestern ihre Seelen gesehen, und nun war ich hier. Das hier war ihre Zeit!

Als der Junge mich sah, blieb er verdattert stehen.

Ich musterte ihn kurz, doch dann entschied ich mich zur Flucht. Mein Herz hämmerte wie wild gegen den Brustkorb und Angst machte sich in mir breit. Nackte Angst.

Ich wusste nicht, ob diese Einsicht ein gutes Zeichen oder eine Warnung gewesen war.

"Warte, ich will mit dir reden!", rief er mir hinterher. Doch ich rannte davon.

Regenkinder (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt