Britta. Imbolc. (2.Teil )

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Und der Mensch, der dort zappelte, und nun auch noch um Hilfe schrie, war ein sehr kleiner Mensch. Es war ein Kind. Kinder. Waren das nicht jene Wesen, die noch das ganze Leben vor sich hatten? Diese hoffnungsvollen, überaus kreativen und nervtötenden Wesen, die man immer meinte beschützen zu müssen?

Etwas presste ihr die Atemluft in die Magengrube. Mit einem Seufzer steckte sie die Kapsel in ihre Jackentasche. Sie riss die Augen noch einmal weit auf.

Heute würde sie sterben und nicht irgendein kleines Kind, dessen Mutter sich offenbar keinen Deut scherte. Mit drei Sätzen war sie am Wasser, legte sich auf den feuchten Boden und zog das Kind zwischen den Seilen der kleinen Yachtboote hervor. Es war nicht sehr weit vom Kai entfernt, hatte aber offenbar die Orientierung verloren. Es zappelte wie wild, und hatte schon eine beträchtliche Menge Wasser geschluckt. Um ein Haar wäre Britta mit hinein gestürzt, aber glücklicherweise war sie kräftig und konnte das Kind schließlich heraus hieven.

Das Kind war ein Mädchen von vielleicht sieben Jahren, zierlich und pitschnass. Sie hustete und weinte in einem, und Britta strich ihr die blonden Strähnen aus dem schmalen Gesicht. Kurz zuckte sie zurück. Die Kleine war blind.

Britta drückte sie an sich, versuchte beruhigende Worte zu finden, war aber selber kaum in der Lage ihren Atem zur Ruhe zu bringen. Dieses Kind hatte dem Tod ins Gesicht gesehen, dem Zustand den sie, Britta, seit Wochen mehr und mehr herbei gesehnt hatte...

„Ich bin Britta. Und wie heißt du?" fragte sie das Mädchen, als sie sich einigermaßen beruhigt hatte.

„Stella." Auch das Mädchen war wieder etwas ruhiger geworden, und starrte geradeaus. Sie schien auf weitere Fragen zu horchen. Gerade als Britta sie fragen wollte, wo ihre Mutter sei, beantwortete sie dies schon von selbst.

„Die Polizei war da. Sie haben meine Mutter mitgenommen. Ich wollte sie suchen. Die anderen wollten mich festhalten, aber ich bin ihnen entwischt. Dann hab ich irgendwo meinen Stock verloren, und als ich mich gebückt habe, um ihn zu suchen, bin ich ins Wasser gefallen. Und du hast mich herausgeholt... Danke." Sie lächelte ein kleines schiefes Lächeln, und Britta ertappte sich, wie sie fast zurück gelächelt hatte. Stattdessen tat sie einen tiefen Seufzer und sah sich nach dem Blindenstock um.

„Dein Stock ist wahrscheinlich ins Wasser gefallen. Ich kann ihn zumindest nirgends entdecken." Britta machte eine kurze Pause und betrachtete das kleine einsame Kind, dessen Gesicht nun betrübtes Erschrecken ausstrahlte. Stella war völlig hilflos ohne ihren Stab. Britta unterdrückte einen weiteren Seufzer, bevor sie wieder sprach.

„Ich bringe dich nach Hause." Stella strahlte.

„Ehrlich? Danke!" Sie drückte sich an Britta, die gerührt war, auch wenn sie es gar nicht sein wollte.

„Schon gut!" sagte sie ein wenig harscher als beabsichtigt. Stella sagte ihr die Adresse, die sie in eine nahe gelegene Plattenbausiedlung führte. Schon übermannten Britta alle gängigen Vorurteile gegenüber Bewohnern solcher Massenwohnanlagen.

„Wer sind denn die anderen, die dich davon abhalten wollten, deine Mutter zu suchen?" fragte sie, während sie sich auf den Weg gemacht hatten. Sie hatte Stella von ihren nassen Sachen befreit, und sie in ihre Jacke gehüllt, die an dem Mädchen herunter hing wie ein Kartoffelsack. Jetzt merkte sie, dass es doch noch recht kalt war.

Stella hatte den skeptischen Unterton in ihrer Frage nicht überhört.

„Tomo und Inga und Monika und Leonhard. Die wohnen bei uns. Und der alte Joseph, aber der war nicht da. Jeder hat sein eigenes Zimmer, und wir haben alle zusammen eine große Küche. Sie sind nett. Aber sie können nicht verstehen, dass ich Mama helfen muss..." Eine WG also. Britta strich Stella über die nassen Haare, während sie die Ärmel ihres Pullovers in den Handflächen zusammenknüllte. Stella war sehr erschöpft, das konnte Britta merken, und sie nahm die Kleine auf den Rücken. Auf eine seltsame Weise fühlte sie sich verbunden mit diesem Kind.

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