Britta fand das alles sehr belastend. Und wenn sie es genau betrachtete, und sie hatte eigentlich tagelang nichts anderes getan, dann kam sie immer wieder zu dem Punkt, an dem sich die Sinnlosigkeit ihr so sehr aufdrängte wie ein hungriger Obdachloser an einem Sonntagmorgen.
Teddy, der gestern gegangen war, hatte es ihr bestätigt. Nicht mit Worten, denn das wäre zu offensichtlich gewesen. Aber mit der Tatsache, dass er gegangen war. Ihr Leben war sinnlos.
Sie betrachtete die Klinke ihrer Wohnungstür in der einen Hand, die kleine Kapsel in der anderen, und zog die Tür hinter sich zu. Sie hatte die Wohnung geputzt heute Morgen, denn niemand sollte ihr vorwerfen, sie sei ein Schwein gewesen. Es tat ihr einen kleinen Stich, als die Tür ins Schloss fiel. Ein letztes Mal ins Schloss fiel. Klack.
Britta weigerte sich, den Stich wahrzunehmen, und schritt so schnell wie möglich aus dem Haus. Keine Treppen, denn sie wohnte Parterre im zweiten Hinterhof.
Die Sonne blendete sie, es waren die ersten vorsichtigen Sonnenstrahlen seit Wochen und Berlin roch nach Februar; Hundescheiße und Tauwetter vertrugen sich nicht besonders. Ihre Hand schloss sich fester um die kleine Kapsel. Zyankali. Dass sie sich damit nicht gerade in der besten Gesellschaft befand war ihr egal. Hauptsache, es war kurz und schmerzlos.
Sie stieg in die U-Bahn, wie so viele Male zuvor. Alles war wie immer.
Sie wollte am Wasser sterben. Das hatte sie sich lange überlegt. Alleine und zuhause, den Gedanken hätte sie nicht ertragen. Es hätte Tage, vielleicht Wochen gedauert, bis man ihre Leiche gefunden hätte. Bis dahin wäre ihr Körper längst stinkend zerfallen.
Nein. Sie wollte am Wasser sterben. Man würde sie bald finden, aber nicht mehr vom Sterben abhalten können. Denn Zyankali war schnell. Schneller konnte man nicht sterben.
Nach einer halben Stunde stieg sie wieder aus der Bahn. Sie hatte in der Bahn die Menschen kaum ansehen können, aus Angst man könne ihr die Entscheidung ablesen, sie ihr in letzter Minute verwehren...
Leierkastenmusik drang aus der Tegeler Fußgängerzone zu ihr hoch. Sie atmete tief ein und schritt auf die Promenade zu, wobei sie ihre Füße unnötig fest vom Boden abstieß.
Es war noch kalt jetzt, aber nicht so kalt wie es sein sollte, normalerweise, am ersten Februar.
‚Klimawandel', schoss es Britta durch den Kopf. Bald würde sie das nichts mehr angehen. Genauso wenig wie der Goldpreis und die Wirtschaftskrise, Atomkraftwerke und all die andere Schlechtigkeit der Welt. Sie würde nur noch Frieden spüren, Ruhe und nochmals Ruhe. Wild entschlossen beschleunigte sie ihren Schritt und ging dem Ufer weiter entgegen.
Viele Blicke blieben auf ihr hängen, denn Britta war eine schöne Frau. Sie war groß und schlank, ohne dafür jemals etwas getan zu haben. Hellbraune Locken waren zu einem undefinierten Knoten gebunden und auf ihrer elfenbeinfarbenen Haut leuchteten Sommersprossen, die ihr Gesicht zum Strahlen gebracht hätten, wäre
da nicht diese steile Falte gewesen, die sich längst tief in ihre Haut gegraben hatte. Sie entstand auf Brittas Nasenwurzel direkt zwischen den moosgrünen Augen und ließ keinen Zweifel darüber, dass ihre Besitzerin sich sorgte.Sie sorgte sich sogar sehr. Sie sorgte sich so sehr, dass es ihr von Tag zu Tag schwerer gefallen war aufzustehen. Sie war morgens mit Magenschmerzen aufgewacht und abends mit Kopfschmerzen und nach langem Wachliegen wieder eingeschlafen. Sie hatte sich vor lauter Müdigkeit und Sorgen zu nichts mehr richtig aufraffen können, und mehr und mehr hatte sie das Gefühl bekommen, dass ihr das Leben entglitt.
Es hatte damit angefangen, dass sie alle ihre Freunde vernachlässigte, dann wurde sie nach und nach im Haushalt schlampiger, so dass sie sich schließlich immer mehr vor ihrem eigenen Zuhause geekelt hatte. Dann hatte man sie, wegen zunehmender Unzuverlässigkeit, aus der großen Bank, für welche sie acht Jahre lang gearbeitet hatte, entlassen. Aber das war ihr nur Recht gewesen, denn nun konnte sie morgens ganz einfach liegen bleiben.
Und gestern war dann Teddy gegangen. Der Mann, der ihr noch vor einem Jahr einen Heiratsantrag gemacht hatte. Er hatte morgens einen Karton genommen, seine wenigen Sachen gepackt, und sie angewidert angesehen, wie sie da lag, um halb zwei immer noch im Bett, und sich mit Schlaf betäubend. Dann war er gegangen, und sie hatte gedacht ‚Jetzt'.
Sie war aufgestanden und eine Stunde lang im Pyjama durch die Wohnung geirrt, ziellos und ohne Sinn. Dann hatte sie zu putzen begonnen, das erste Mal seit wer-weiß-wie-lange. ‚Morgen', dachte sie dann während sie den Boden wischte, während sie alle Tagebuchdateien aus dem Laptop löschte. ‚Morgen' dachte sie am Abend, als sie ihrem Vater Blumen auf das Grab legte, ein letztes Mal,
‚Morgen komme ich zu dir...'
Sie war am Ufer angelangt und verlangsamte ihre Schritte. Nun hatte sie Zeit. Sie hatte es nicht mehr ganz so eilig, denn die Bank auf welche sie sich setzen wollte, war frei; es war schließlich nicht Sommer.
Es war die einzige Bank, die von der Seite her nicht einsehbar war, denn sie war etwas weiter eingerückt als alle anderen Bänke und von dichtem Gebüsch umgeben. Der Blick hatte freie Bahn auf den kleinen Kai, die anliegenden Boote und die Schwäne und Enten die sich im Sommer davor tummelten. Dann saßen hier immer die Liebespaare. Nur sie hatte hier nie mit jemandem gesessen, auch nicht mit Teddy, als sie ihn vor drei Jahren kennen gelernt hatte. Aber das war egal, denn jetzt saß sie hier. Sie spürte die kalten Bretter der Bank unter sich und die kühle Luft, die nicht kühl genug war, und hörte das Plätschern des Sees. Sie schloss die Augen. In ihrer Hand brannte sich die Kapsel in die Haut. Sie hatte sie in einem Kistchen gefunden, als sie vor zwei Jahren das Haus ihrer Großmutter leer geräumt hatten. Dabei hatte ein Brief gelegen, von ihrem Großvater, der kurz nachdem er ihn geschrieben hatte in Stalingrad gefallen war. Er hatte diese Kapsel seiner Frau Lene hinterlassen, damit sie sich nichts antun lassen müsse, falls sie den Krieg verlieren sollten. Er hätte sie ihr wohl niemals hinterlassen, hätte er gewusst, dass Lene zu jenem Zeitpunkt bereits mit seinem Sohn schwanger gewesen war...
Britta lauschte auf das Plätschern, das Murmeln der Menschen, den Wind, der pfiff. Noch einmal tief einatmen, und dann die Kapsel in den Mund geschoben... Schon hatte sie die Hand gehoben, als ein heftiges Platschen sie hochriss. Widerwillig öffnete sie einen Spalt weit die Augen.
Das Geräusch kam vom nahen Wasser. Jemand war ins Wasser gefallen, wie es klang. Nun – man würde sich darum kümmern. Aber ganz bestimmt nicht sie. Nichts, aber auch gar nichts, konnte sie jetzt noch ins Leben zurückholen. Sie war schließlich so gut wie tot.
Sie wollte schon wieder die Augen schließen, als ihr gewahr wurde, dass aber gerade jetzt niemand da war, um zu helfen. Es war, als wären mit einem Mal alle Menschen wie ausgelöscht. Als seien alle anderen tot, und nur sie lebe noch, sie und dieser zappelnde Mensch vor ihr im Wasser. Wie absurd.
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Der Dachgarten
Narrativa generaleEigentlich hätte es Brittas letzter Gang sein sollen. Ausgestattet mit einer Zyankalikapsel will sie alles hinter sich lassen - vor allem sich selbst. Doch dann stürzt vor ihr das blinde Mädchen Stella ins Wasser, und Britta rettet ihr das Leben. Da...