Am nächsten Morgen verlief die Arbeit wie am Schnürchen, und das, obwohl er reichlich übermüdet war. Seine Kollegen waren freundlich, und taten, als sei nie etwas gewesen. Seine Ausarbeitung vom Vortag kam bei Herrn Axtmann sehr gut an, und er schaffte es sogar, Stella pünktlich von der Schule abzuholen. Das war auch gut so, denn es war Stellas letzter Schultag vor den Sommerferien.
Anna empfing ihn mit einem strahlenden Lächeln, und der Tag verging ohne weitere Vorkommnisse, was Leonhard sehr genoss. Ihn begleitete das Gefühl, endlich wieder in seinem Leben angekommen zu sein, nachdem er sich in einer seltsam schrecklichen Variante davon verlaufen gehabt hatte.
Erst als der Abend kam, und mit ihm Britta freudestrahlend in der Küche auftauchte, da piekste ein kleiner Rest des Unbehagens am Rande seines Rippenbogens. Was war mit der Ausstellung? Britta ließ nicht lange auf sich warten, und lieferte eine detaillierte Schilderung ihres Gesprächs mit Herrn Kaub, Jacquelines Vater. Offensichtlich war er sehr begeistert von ihren Bildern, und wollte die Vernissage auf den 2. August legen, was bereits in zwei Wochen war – und außerdem der Tag auf welchen Lammas, das nächste Jahreskreisfest, fiel.
„Das ist nicht schlimm, Britta. Wir feiern deine Vernissage in dem Wissen, dass dies die Ernte ist, die dir die große Göttin schickt. Lammas ist doch das Fest der ersten frühen Ernte im Jahr, der Kornernte. Und eine Vernissage ist genau das: Ein Erntefest. Deine Bilder sind aus Ideen entstanden – und da hängen sie dann als die fertigen Früchte deiner Gedanken. Wie könnte man Lammas also passender begehen?!"
Anna strahlte Britta an, und Britta fiel ihr in den Arm, denn sie hatte Angst gehabt, dass ihre Freunde nicht kommen würden. Monika blinzelte begeistert, und auch Leonhard entspannte sich allmählich bei dem Gedanken daran. Diese Ausstellung hatte nichts mehr mit Jacqueline zu tun. Es war eine Sache zwischen Britta, einem Herrn Kaub, und einer Gottheit, die es offenbar gut mit ihnen meinte. Jacquelines Rolle dabei war nur die jenes Geistes gewesen, der stets das Böse will, und doch das Gute schafft.
Er lächelte, und während die anderen noch darüber berieten, was sie zu dieser Gelegenheit wohl anziehen wollten, dachte er an seine gute Tante, die ihm, wie schon so oft, geholfen hatte. Er würde sie mit auf die Vernissage nehmen. Es war ohnehin Zeit, dass sie Britta kennen lernte. Immerhin war Britta nun schon ein halbes Jahr bei ihnen. Plötzlich fiel ihm ein, dass Tante Mia ihm ein kleines Päckchen in die Hand gedrückt hatte, bevor er sie letzte Nacht – war es tatsächlich erst letzte Nacht gewesen? – verlassen hatte. Er stand auf, trat auf den Dachgarten, und schaute hinab auf die Straße mit ihren Autos und dem dahinter liegenden Park.
Die Hitze stand über der Stadt, und die Sonne glühte so heiß, dass er bald einen sehnsüchtigen Blick zu Josephs kleiner Hütte warf. Er würde zu ihm hinüber gehen und dem alten Mann einen Besuch abstatten. Bald würde Joseph sein Schweigegelübde brechen dürfen. Es waren noch drei Monate bis Samhain. Aber erstmal... Leonhard griff in die Tasche seiner Hose und holte die winzige Schachtel hervor. Zwei Ringe lagen darin, silbern und schon recht abgewetzt. Sie waren graviert. „Cecilia" stand in dem einen, „August" in dem anderen. Es waren die Eheringe seiner Großeltern, und Maria hatte sie ihm wohl nicht ohne Grund gegeben. Und er spürte, dass sie einmal mehr Recht hatte: er wollte Anna wirklich heiraten. Er wollte es aus tiefster Seele.
Leonhard klopfte bei Joseph, und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Schließlich durfte Joseph nur über Augenkontakt kommunizieren. Selbst ein Grunzen wäre also zu viel verlangt gewesen. Joseph saß auf seiner Pritsche und sah ihn freundlich an. Leonhard hatte ihn mal wieder beim meditieren gestört, aber das machte nichts, denn er freute sich über den Besuch seines Freundes. Leonhard setzte sich zu ihm. Er selbst hatte diese Hütte vor fünf Jahren, als Joseph zu ihnen gekommen war, gebaut. Sie war schlicht, aber hübsch, und bis auf die Tatsache, dass das Dach ständig leckte, auch ganz solide gebaut. Leonhard mochte den alten Mann sehr. Er hatte ihn in letzter Zeit oft aufgesucht, um ihm zu erzählen, was ihm so widerfahren war. Obwohl oder gerade weil Joseph nicht antworten konnte, so hatte er das Gefühl, dass er regen Anteil nahm an seiner Geschichte. Leonhard war jedes Mal ein wenig gestärkt in die Wohnung zurückgekehrt.
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Der Dachgarten
General FictionEigentlich hätte es Brittas letzter Gang sein sollen. Ausgestattet mit einer Zyankalikapsel will sie alles hinter sich lassen - vor allem sich selbst. Doch dann stürzt vor ihr das blinde Mädchen Stella ins Wasser, und Britta rettet ihr das Leben. Da...