Es war seltsam, nun ihre eigenen Geschichte aus dem Mund dieser fremden Frau zu hören, und es war noch seltsamer, dass eben diese fremde Frau die eigene Urururenkelin war. Sie erfuhren, wie es ihren Kindern und Kindeskindern ergangen war, dass ihr jüngster Sohn das geliehene Land schließlich hatte freikaufen können, dessen älteste Tochter wiederum den damaligen Bürgermeister geheiratet hatte. Deren ältester Sohn war es schließlich gewesen, der diese kleine Herberge gebaut hatte, und der nun war Doris Großvater.
(„Und unser Urenkel"), wie Inga in Gedanken hinzusetzte. Sie hatten beide nicht mehr erlebt, wie das Land frei gekauft wurde, wohl aber den lange gehegten Wunsch ihres Jüngsten gekannt, und es rührte sie beide zutiefst, dass er seinen Traum, der solange auch ihr eigener gewesen war, hatte wahr werden lassen. Dori sprach auch noch von der anderen Seite ihrer Familie, und weder Joseph noch Inga wollten sie unterbrechen, dafür waren sie zu höflich, aber insgeheim starrten sie doch die ganze Zeit auf das Foto jenes Urenkels, der diese Herberge gebaut hatte. Fast fühlte sich all das an, als seien sie aus der Vergangenheit in die Zukunft gereist, und es war amüsant und verwirrend zugleich. Es war weit nach Mitternacht, als sie schließlich schlafen gingen. Der Regen hatte sich gelegt, und sie legten sich mit einer tiefen Freude schlafen. Alles war gut, das spürte Inga. Sie fühlte sich so sehr verbunden mit der Welt, mit allem so einverstanden, wie es selbst in ihrem zufriedenen Leben selten war. Es war gut, dass sie hier waren, das war kein Zufall. Es war gut, dass sie den Grabstein gefunden hatten, das war kein Zufall. Und es war gut, dass es ein solches Unwetter gegeben hatte. Auch das war ganz sicher kein Zufall. Alles fügte sich, und sie fügten sich auch, und das war es, was sie so froh machte. Aber soweit zu denken kam sie nicht, es war lediglich ein Gefühl, das sie sacht hinein in den Schlaf trug.
Die nächsten zwei Tage war das Wetter milder gestimmt. Es war, als habe der Himmel erstmal alles von sich gegeben, was er so auf dem Herzen hatte. Leichter Hochnebel war hier ein Normalzustand, aber ansonsten zeigte sich ihre alte Heimat von ihrer schönsten Seite. Jede Minute, die Inga und Joseph an diesem kleinen Ort und im Umland verbrachten, fühlten sie sich heimischer und vertrauter. Es kam nicht nur einmal vor, dass sie eine Straße entlang liefen, und schon zuvor ihren Verlauf kannten. Oder zumindest zu kennen meinten, denn wie ihnen bereits am ersten Tag aufgefallen war, war auch dieses Fleckchen Erde nicht von den Veränderungen der Neuzeit verschont geblieben. Sie waren immer wieder begeistert von der schottischen Herzlichkeit, die ihnen überall begegnete, und der wilden Schönheit der Natur, die hier so viel allgegenwärtiger war, als in der Großstadt.
An ihrem letzten Nachmittag kamen sie auf das Land, auf welchem sie vormals gelebt hatten. Sie entdeckten es unweit ihrer Herberge, und es kam ihnen sehr seltsam vor, dass sie es nicht vorher gefunden hatten, doch dies war die einzige Richtung, in die sie noch nicht gegangen waren. Etwas hatte sie davon abgehalten. Vielleicht war es ein unbewusstes Wissen darum, was die Macht der Erinnerungen für eine starke Meisterin war. Als sie hier auf diesem Stück Land standen, ein Land, das sich an einen steilen Abhang schmiegte, und das Joseph zuletzt in seiner Vision gesehen hatte, da kam in ihnen das unleugbare Verlangen auf, hier zu bleiben.
Eine von Wildwuchs überwucherte Steinmauer zeugte noch von der Stelle, an welcher zuvor die kleine Bauernkate gestanden hatte. Inga stellte sich an den Punkt, an welchem vor über 180 Jahren einmal die Tür gewesen war. Alles war auf einmal wieder da, ihr Heilkräuterbeet gleich rechts vom Eingang, das Häuschen hinter ihr, der wilde Rosenbusch zu ihrer linken. Sie sah Joseph an und wusste, dass es ihm genauso erging. Er griff an eine Stelle neben der Tür, gleich hinter der Stelle, wo einst der Rosenbusch gewesen war, und langte nach der unsichtbaren Axt, die dort gehangen hatte an der Mauer, die nunmehr nur noch bis zu ihren Knien reichte. Er hackte Holz, das es nicht mehr gab auf einem Block, der längst zu Staub zerfallen war. Ihnen war leicht ums Herz, als sie Hand in Hand zurück zur Herberge gingen, um mit Dori Tee zu trinken.
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Der Dachgarten
Tiểu Thuyết ChungEigentlich hätte es Brittas letzter Gang sein sollen. Ausgestattet mit einer Zyankalikapsel will sie alles hinter sich lassen - vor allem sich selbst. Doch dann stürzt vor ihr das blinde Mädchen Stella ins Wasser, und Britta rettet ihr das Leben. Da...