Joseph. Mabon. (2.Teil)

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Der Weg tat Joseph gut. Er lernte viele andere Mönche kennen, und alle trugen sie ihr Päckchen und ihre Sünden nach Santiago zum heiligen Jakobus. Der Weg war nicht gerade komfortabel, aber Joseph hatte alle Pein willkommen geheißen. Er hatte es nicht anders verdient. Abends saß er oft schweigend mit den anderen Pilgern in einer Gaststätte bei Wasser, Käse und Brot, müde und erschöpft, und nicht mehr in der Lage, an etwas Bestimmtes zu denken.

In jenen Momenten waren viele Bilder aufgetaucht, und viele andere für immer verschwunden. In den ersten Tagen war es stets Ingas Bild gewesen, das, bewegt oder schweigend, lachend oder ernst vor seinem Geiste schwebte. Er hatte es zugelassen, das Bild und auch den Schmerz, der mit diesem Bild verbunden war, denn er hatte gewusst, nur so würde der Schmerz eines Tages nachlassen. Und er schien Recht zu haben – Ingas Antlitz verblasste mit den Tagen. Aber das Bild von Matilda, die ihm vom Türrahmen der kleinen Bauernkate, seine Kinder in den Armen haltend, sehnsuchtsvoll hinterschaute, war geblieben.

Doch mit jedem Schritt, den er tat, war auch seine Entschlusskraft gewachsen. Eines Tages, in einer damals möglichst nicht allzu fernen Zukunft, würde er es geschafft haben und wieder rein sein. Er glaubte, diese Reinheit sei die Bedingung dafür, seinem Schöpfer wertvoll dienen zu können. Den Rest seines Lebens wollte er damit verbringen, zu beten und die heilige Schrift zu studieren. Ein Herzklopfen löste dies bei ihm aus, das mit dem Gedanken an die junge Frau Maß halten konnte.

Am Ende war ihm der Weg beinahe zu kurz erschienen, denn er hatte es bis zum Schluss nicht geschafft, sich ganz von den Erinnerungen an Matilda zu befreien.

Als er in Santiago angelangt war, und endlich vor dem heiligen Jakobus kniete, kam ihm – wie vom Heiligen persönlich gegeben – der Gedanke, dass die Idee der Wiedergeburt von der Kirche nicht anerkannt war. Also, schlussfolgerte er, konnte es sie auch nicht geben! Vermutlich, so dachte er in jenem Moment, hatte Inga ihn verhext. So musste es dann wohl sein: Dieses Bild von einer Frau, die sie angeblich gewesen sein wollte, war ein Trugbild, um ihn an sich zu fesseln. Der heilige Jakobus hatte ihm ein Zeichen gegeben. Wut stieg in ihm auf, und da sie ihm an jenem Ort gekommen war, hatte er seine Wut für heilig befunden.

Erst Jahrzehnte später, nachdem er lange Zeit seine Wut auf Inga genährt hatte, was allerdings trotzallem nicht verhindern konnte, dass er ab und zu von ihr träumte, oder sich Matildas Bildnis plötzlich und unerwartet in seine Gedanken schlich, war ihm klar geworden, was das Geschenk des heiligen Jakobs eigentlich gewesen war. Er hatte ihm mit der Erinnerung daran, dass die Kirche die Wiedergeburt nicht anerkannte, einen Zweifel geschenkt. Aber er hatte ihn nicht richtig verstanden. Nicht sein tiefes Wissen, um etwas, was er als wahr erkannte, sollte er in Frage stellen, und auch nicht Inga, die ihn nur an dieses Wissen erinnert hatte, auch nicht die tiefe Liebe zu ihr, die sich nicht wegbeten ließ, sondern die Unfehlbarkeit der Kirche.

Konnte eine Kirche, die eine Sache verneinte, die er als eine tiefe Wahrheit in sich spürte, unfehlbar sein? Und war sie es nicht, vielleicht war es dann auch falsch, so tiefe Gefühle, wie er sie noch immer für Inga und ihr früheres Selbst hatte, zu verteufeln?

Er hatte ein ganzes Jahr über diese anfangs zaghaften Zweifel grübeln müssen, aber immer mehr schwand die Scham ob dieser ketzerischen Gedanken einer Gewissheit und einem Glauben an sich selbst. Seit jenem ersten inneren Aufbegehren hatte er wie von Schicksalsmächten gegeben immer mehr gesehen, für was sein Geist früher blind gewesen war.

Er sah den grausamen Zwiespalt, in welchem die meisten Brüder lebten, zwischen Wollen und Dürfen. Der moralische Vorhang war gefallen und hinter ihm kamen Unehrlichkeit und unterdrückter Schmerz, untergründige Aggression und Angst zum Vorschein. Nach einem Jahr war Joseph nicht mehr in der Lage, all dies zu ertragen und ging. Er ließ einen schockierten Abt, der längst nicht mehr Vater Johannes war, und eine verwirrte Bruderschaft zurück.

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