Joseph. Mabon.

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Joseph war unfassbar müde, so müde, dass er es nur mit großer Mühe schaffte, seine Augen offen zu halten. Immer wieder rutschte er in einen seltsamen Dämmerzustand zwischen jetzt und früher und schlafen und wachen. Er saß auf einem Kissen vor seiner Hütte, mit dem Rücken an das warme Holz seines Häuschens gelehnt, und blinzelte in die Abendsonne,  jedesmal aufs Neue, wenn er sich seines Körpers wieder bewusst wurde.

Von der anderen Seite des Dachgartens klang schallendes Gelächter zu ihm herüber. Britta und Tomo hielten sich an den Händen, schauten hinunter und schienen sich über irgendetwas ganz köstlich zu amüsieren. Dass der Junge wieder da war, merkte man gleich. Die Atmosphäre auf dem Dachgarten war viel energiegeladener, weil er jeden Morgen seine Übungen machte. Man konnte es auch daran spüren, dass Britta jetzt unentwegt lächelte. Und Joseph wiederum musste lächeln, wenn er ihren Blick einfing. Deshalb, so war er sich sicher, war es ein verliebtes Lächeln. Es gab nun einmal kein anderes Lächeln, dass so sehr ansteckend war.

Joseph atmete tief und genoss den Geruch des Sommers, der an der Kippe stand. Unten in der großen Stadt, so wusste er, saßen die Menschen die letzten Male draußen und schlürften ihre Kaffees am Straßenrand, gingen ein letztes Mal an die Badeseen, schliefen ein letztes Mal in der Laube. Der Herbst stand schon vor der Tür – hatte aber noch nicht angeklopft, sondern stand nur unerkannt und wartete. Man ahnte seine Ankunft und dieses Ahnen ließ einen diese Tage ganz bis zu ihrem Letzten ausschöpfen.

Inga brachte ihm täglich frisches Obst, und der kleine Mirabellenbaum neben seiner Hütte war von kleinen gelben Früchten übersät. Vermutlich war er in seinem Leben selten so zufrieden gewesen wie in diesen letzten fünf Jahren. Er hatte Inga wieder um sich, nach all der Zeit, und fühlte sich endlich angekommen. Immer war er auf der Suche gewesen, getrieben und unruhig, doch nun hatte er ein Zuhause, und bald, bald würde er auch endlich von der Last des Schweigens befreit sein. Es gab so viel, das er mit Inga besprechen wollte. Er lächelte. Wie gut, dass sich alles so entwickelt hatte! Vor fünf Jahren noch hatte es so ausgesehen, als werde er seine letzten Tage irgendwo in der Gosse verbringen müssen...

Es hatte so lange gedauert, bis er es endlich geschafft hatte, sich vom Klosterleben zu verabschieden und sich seiner wahren inneren Stimme zuzuwenden. Schon lange hatte sie immer wieder Ingas Namen gerufen. Eigentlich seit dem Augenblick, da sie sich das erste Mal getroffen hatten. Wilde romantische Zeiten waren das, an die er da dachte, doch auch mit einer Schuld beladen, die sein ganzes Leben hatte prägen sollen. 

Er sah alles so deutlich vor seinem inneren Auge, als sei es erst wenige Tage her:

Inga war eine Novizin im benachbarten Schwesternkloster, und er bereits seit fünfzehn Jahren ein Bruder der Gesellschaft Jesu, oder wie man ihn landläufig nannte, im Jesuitenorden.

Am Tag nach ihrer Ankunft war er ihr das erste Mal begegnet, und so sehr er seitdem versuchte, gegen diese Ahnung anzukämpfen, wenn er sie morgens bei der Andacht in der Kirche des kleinen Alpenortes traf, durchzuckte ihn doch jedesmal das Wissen, dass diese Frau etwas mit seinem Leben zu tun hatte. Egal, wie oft er Buße tat, wie viele Nächte er betend durchwachte, sie sank tiefer und tiefer in sein Herz und dort, so schien es, wollte sie für immer bleiben. Ihr ging es genauso. Ihm entging nicht, wie nervös sie in seiner Gegenwart wurde, wie sie bewusst versuchte, ihn nicht anzuschauen...

Es war schließlich bei den Vorbereitungen für die Osterfeuer, dass sie zueinander fanden. Wie es das Schicksal gefügt hatte, waren sie beide es gewesen, die man hinausgeschickt hatte, um das Feuerholz zu sammeln.

Wenn Joseph jetzt die Augen schloss, dann sah er noch die schöne junge Inga vor sich, mit ihren Augen, in denen Veilchen glühten, ihrer ernsten hohen Stirn und den Grübchen in den Wangen, dem Mund, der – etwas spöttisch und voll – einen Gegensatz bildete zu dem Sehnen in ihren Augen. Er beobachtete sie eine ganze Weile an jenem Karsamstag. Eine Menge Holz lag schon aufgeschichtet neben ihm an eine hohe Fichte gelehnt. Sie schien ihn nicht zu bemerken. Schließlich entschloss er sich, nach ihr zu rufen, um sie nicht zu erschrecken.

Der DachgartenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt