Tomohisa. Yule.

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Tomo war bereits wach und betrachtete die schlafende Britta neben sich. Vorsichtig, um sie nicht aufzuwecken, strich er ihr eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht.

Heute würde Ingas Beisetzung sein. Ihr Tod hatte viele Dinge emporgewühlt, von denen er das Gefühl gehabt hatte, sie dank Britta allmählich zu überwinden. Seit Inga eine Woche zuvor gestorben war, hatte Joseph kein Wort mehr gesprochen. Diesmal schien ihm das Schweigen jedoch ein Bedürfnis zu sein, wie ein alter Freund, dem er sich verlässlich in die Arme werfen konnte. Und auch er selbst war wieder wortkarg geworden. Es war noch nicht so lange her, dass er seine Eltern und seine kleine, damals gerade sechzehnjährige Schwester bei einem Autounfall verloren hatte. Einem Unfall, in welchem er selbst das Auto in den Tod gelenkt hatte. Wie ein Hohn hatte er überlebt, hatte nicht einmal einen Kratzer abgekriegt. Er war weggegangen aus seinem Heimatort, in dem alle die freundliche japanische Familie kannten. Sein Vater hatte in der nächst größeren Stadt ein nobles japanisches Restaurant besessen, und sie waren beliebte Nachbarn gewesen. Genau wie Britta hatte auch er vorgehabt, sich das Leben zu nehmen. Nur dafür war er nach Berlin gekommen. In der Anonymität der Großstadt wäre das leichter, hatte er gedacht.

Mit der Einmietung in das kleine Zimmer hatte er sich eine Frist von einem Monat gesetzt, um all seine Sachen zu regeln und sich innerlich auf den Tod vorzubereiten. Er hatte es ruhig angehen wollen und unblutig, um niemanden durch seinen Anblick zu schockieren. Anna hatte er seine Geschichte erzählt und gesagt, er wolle einen Neuanfang, einen sauberen Schnitt machen. Was ja auch gestimmt hatte. Auch der Tod war ein Neuanfang.

Jeden Morgen hatte er nun seine Tai Kyoku Ken Übungen gemacht, die japanische Form des Tai Chi. Er wollte klar und sauber von dieser Welt gehen, mit all der Kraft und Reinheit zu der er fähig wäre. Eines Morgens, etwa zwei Wochen, nachdem er eingezogen war, hörte er, wie Anna mit Inga über den Tod sprach, während er verspätet auf der verregneten Terrasse des Dachgartens übte. Die beiden Frauen knieten ganz in seiner Nähe und rupften gemeinsam Unkraut, und Anna erwähnte wie nebenbei, dass sie bei der Geburt von Stella fast gestorben war, und sich einem unglaublich liebevollen Wesen gegenüber gefunden hatte. Seine Aufmerksamkeit war immer weiter weg von seinem Körper und hin zu Annas Ausführungen gewandert. Fast war es gewesen, als hätte er selbst all das erlebt, wovon sie sprach. Seine Wahrnehmung war plötzlich so seltsam raumlos geworden - Annas Worte waren durch ihn hindurch geströmt und es war, als trügen eben diese Worte ihn direkt zu dem Erzählten hin. Er lauschte und lauschte, und wusste, dass alles wahr war. Alles war richtig, was sie sprach. Tomo war ein sehr logischer Mensch, und so kam er um die einzige sinnvolle Schlussfolgerung nicht herum: ein Selbstmord würde ihn nicht weiterbringen. Er würde seinen Schmerz mit sich nehmen, und müsste alle Aufgaben noch einmal bestehen... Diese Erkenntnis hatte ihn roh und ohne Vorwarnung in die Gegenwart zurückgebracht. Er würde seinen Schmerz überall hin mitnehmen. Es gab keinen Ausweg.

Mit diesem Wissen hatte er sich gezwungen, seinen Schmerz zu spüren, und so war er langsam und quälend, aber doch täglich etwas weniger geworden. Und deshalb lebte er nun noch, atmete... und was viel erstaunlicher war: er liebte. Er hatte es ein Jahr lang für völlig unmöglich befunden zu lieben, hätte schwören können, dass er niemals mehr in der Lage sein werde, einen Menschen zu lieben. Zu schmerzhaft war der Verlust. Außerdem war das Gefühl, der Liebe nicht würdig zu sein, dumpf und streng in sein Unbewusstes eingedrungen und hatte sich dort im Laufe der Zeit viel Platz erkämpft. Er hatte jeden Annäherungsversuch von Frauen, und Monika war in diesem Jahr nur eine von vielen gewesen, als unerträgliche Qual empfunden.

Britta gab ein kurzes leises Schnarchen von sich, und er musste lächeln. Dann war Britta gekommen – mit einer Aura so durcheinander wie ein Gemüseeintopf. Wut war da, gut verdrängt, und so viel Resignation. Und über ihrem Kopf eine düstere schwarze Wolke. Eine Selbstmordwolke. So eine, wie er sie jeden Morgen im Spiegel gesehen hatte. Und so schön war sie. Auf so eine wilde und wütende Art schön, eine Art, die zugleich nie den kleinsten Zweifel an ihrer Empfindsamkeit ließ. Er war sich sicher, noch nie in seinem Leben eine so schöne Frau gesehen zu haben. Ihre roten Haare, ihre blasse Haut und diese Stirnfalte, die wie ein Stimmungsbarometer fungierte. Mit versteckter Neugier hatte er beobachtet, wie sich die Stirnfalte immer mehr glättete, seit sie in der Dachgartenwohnung angekommen war. Ein Interesse, das er zunächst noch unterdrückte. Immer noch durchströmten kleine Angstschocks seinen Brustraum, wenn er an den möglichen Verlust dachte, den ein Gewinn ihrer Liebe auch zugleich bedeuten konnte. Er wusste, dass ein solcher Gedanke töricht war, dennoch konnte er ihn nicht richtig kontrollieren.

Der DachgartenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt