„Ich bleib bei dir. Das versprech ich dir. Für immer. Weil du ein wundervoller Mensch bist. Ich - liebe dich, Britta." Jetzt war es raus. Er hatte das noch nie gesagt, nicht zu ihr, und erst recht nicht zu den zahlreichen bedeutungslosen Kurzzeitbeziehungen, die er vor dem Tod seiner Eltern gehabt hatte. Es gab etwas Schlimmeres als Verlust durch den Tod, und das war ein Verlust durch Lieblosigkeit. Wie konnte jemand sein kleines Kind im Stich lassen! Er konnte sich lebhaft vorstellen, dass sich bereits zu dieser Zeit die steile Falte tief in Brittas Kinderstirn gegraben hatte.
Brittas Schluchzen wurde allmählich weniger, sie grub ihre Fingernägel tief in seine Schultern, und den Schmerz, der daraus resultierte, ließ er gerne zu, denn er gab ihm das Gefühl, ihr ein wenig von dem ihren nehmen zu können. Etwa zwei Stunden saßen sie nur so da, und spürten nicht einmal die Kälte des herannahenden Winters, denn sie waren zu sehr damit beschäftigt, den kalten Raum in Brittas Seele aufzuwärmen.
„Ich hab mich immer gefragt, ob sie wieder Kinder bekommen hat, und warum sie mich verlassen hat, so sang- und klanglos..."
„War sie denn vorher für dich da? Ich meine, war sie eine normale Mutter?"
„Was ist schon normal? Sie war halt da. Das meiste hat eh mein Vater gemacht... Ich glaube, sie hat viel getrunken. Sie hat oft den ganzen Tag einfach nur im Bett gelegen. Aber ich war ja sowieso im Kindergarten, bis mich mein Vater abends wieder abgeholt hat, wenn er von der Arbeit kam. Ich hab von meiner Mutter nicht soviel mitgekriegt, höchstens am Wochenende. Ich dachte immer, ich muss mich besonders anstrengen, damit sie mich lieb hat... Und dann war sie eines Tages einfach weg. Und genaugenommen war ja damit auch nicht soviel anders, nur dass ich immer dachte, sie ist gegangen, weil ich so ein schlechtes Kind war. Wäre ich artiger, schöner und klüger gewesen, dann hätte sie mich doch geliebt und wäre dageblieben..."
„Wäre sie ein besserer, schönerer, klügerer Mensch gewesen, dann hätte sie nicht einfach ihr Kind allein gelassen! Oder hätte sich vorher gegen ein Kind entschieden. Du warst daran nicht schuld. Du warst bestimmt ein wundervolles Kind, dessen bin ich mir sicher!
„Ja, ich weiß... Aber irgendwie tut es trotzdem weh."
„Klar. Ich kenne das gut... Aber frag dich lieber, warum du dir diese Mutter ausgesucht hast." Er spürte, dass sie verwirrt war. Vielleicht war das nicht der richtige Augenblick gewesen.
„Versteh mich nicht falsch. Ich finde das absolut nicht in Ordnung, wie sich deine Mutter verhalten hat. Ich glaube nur, dass wir uns unser Schicksal selbst aussuchen. Wir suchen uns unsere Eltern aus, bevor wir geboren werden, und wir brauchen die Erfahrungen, die wir hier machen aus irgendeinem Grund. Wir sind alle hier, um Erfahrungen zu sammeln. Und manche Erfahrung ist unerlässlich, damit wir andere Dinge verstehen. Ohne den Tod meiner Eltern würde ich noch immer BWL studieren, meine Aurensichtigkeit hätte ich immer weiter verleugnet, meine ganze Spiritualität eigentlich, und vor allem hätte ich dich nie kennen gelernt..." Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. Schweigend verließen sie den Friedhof.
Die Wochen vergingen, und sie sprachen noch einige Male über ihre Mutter, bevor Britta sich entschloss, sie zu finden und zur Rede zu stellen. Tomo hatte vergeblich versucht, ihr diese, wie er fand, ziemlich gefährliche Idee auszureden. Als sie nach weiteren zwei Wochen, die Adresse ihrer Mutter gar nicht so weit weg von der Dachgartenwohnung fand, überkamen Britta Panik. Letztlich konnte diese sie aber nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Tomo bestand darauf, sie zu begleiten. Irgendjemand musste schließlich da sein, für den Fall, dass sie danach nurmehr ein Häufchen Elend sein würde.
In der vorhergehenden Nacht hatte Britta fast nicht geschlafen, und auch Tomo hatte seine Mühe gehabt, sich zu entspannen. Immer wieder setzte er sich in seine Meditationsecke und versuchte, seinen Geist leerlaufen zu lassen. Bilder von einer abgewrackten Mutter, die eine weinende Britta unwirsch wegschickte, mischten sich mit Bildern von seiner Mutter, die ihm liebevoll ein Schulbrot machte, die ihm abends Geschichten erzählte. Jäh tauchten auch immer wieder Gedanken daran auf, wie diese selbe Mutter aus seinem Auto geschleudert wird. In ihm tobte ein Durcheinander, welches er trotz aller Übung nur mit Mühe besänftigen konnte.
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Der Dachgarten
General FictionEigentlich hätte es Brittas letzter Gang sein sollen. Ausgestattet mit einer Zyankalikapsel will sie alles hinter sich lassen - vor allem sich selbst. Doch dann stürzt vor ihr das blinde Mädchen Stella ins Wasser, und Britta rettet ihr das Leben. Da...