Anna. Ostara. (2. Teil)

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Am nächsten Morgen, der etwas friedlicher über sie herein brach als der vorangegangene, machte sich Anna mit der U-Bahn auf den Weg ans andere Ende der Stadt. Sie fuhr zu Maria. Sie hoffte auf ein offenes Ohr und darauf, dass sie ihr die Karten legen würde, denn sie sich selbst zu legen, war meist ein reichlich sinnloses Unterfangen. Und sie musste wissen, ob Leonhard sie betrog...

Maria wohnte in einem alten baufälligen Haus, das einmal ihrer Großmutter gehört hatte. Es war eingeschossig und von einem großen Garten umgeben. Dieser Garten strahlte eine ähnlich starke Energie nach außen aus wie ihr eigener Dachgarten. Auch hier wurden regelmäßig Kräfte gesammelt, und Anna konnte sich noch gut an die Rituale erinnern, die sie damals gemeinsam mit Maria gemacht hatte. Hier herrschte Stille, und kein Autorauschen drang an diesen Ort. Es war ein einsamer Rückzugspunkt in einem fast ländlichen Außenbezirk Berlins. Wenige Meter von Marias Haus begannen endlose Wiesen und Felder sich bis an den Horizont zu strecken. Maria lebte allein mit ihren Tieren, dem Hausschwein Hanna, der Gans Else, dem Hund Banjo und den Katzen Zilly und Trilly, die alle gemeinsam in ihrer großen Wohnküche übernachteten.

Banjo kam Anna schwanzwedelnd und bellend entgegen gerannt, kaum, dass sie sich dem Grundstück näherte. Anna begrüßte ihn lachend, und ließ sich von ihm abschlecken. Das durfte nur Banjo.

Gerade, als sie auf die steinerne Treppe, welche zur Haustür hinaufführte trat, kam ihr eine junge Frau entgegen. Ein Leuchten ging von ihr aus. Maria hatte ihr offensichtlich die Karten gelegt, und das tat sie stets auf eine Weise, die Menschen glücklich machte. Anna lächelte die Frau im Vorübergehen an, und ging auf Maria zu, die in der Tür stehen blieb, als sie Anna kommen sah. Mit einem besorgten, liebevollen Blick schloss sie Anna in die Arme und schob sie sanft ins Haus.

Wie schon immer, seit Anna das Haus kannte, roch es nach Kräutern, die an den Balken der niedrigen Holzdecken zum Trocknen aufgehängt waren. Maria schob sie weiter in die Wohnküche. Erst jetzt sprachen sie.

„Anna, meine Liebe... Geht es dir nicht gut?" Sie schaute sie besorgt an, wies ihr einen Platz an dem schönen alten Holztisch und machte sich daran, einen Tee zu kochen. Anna schüttelte den Kopf.

„Ich hab Angst. Ich glaube, Leonhard lernt gerade eine neue Frau kennen..." Ihr stiegen Tränen in die Augen.

Hier, an diesem Tisch, kam alles zum Vorschein. So war es immer gewesen, und so würde es wohl immer sein. Dem tiefen Blick der alten Dame hielt nichts und niemand stand. Maria schwieg. Sie setzte sich zu Anna an den Tisch, und legte ihr sanft und ruhig die Hand auf den Arm. Nichts weiter geschah. Aber Anna durfte weinen. Zehn Minuten lang saßen sie so schweigend, bis das Schluchzen allmählich nachließ. Maria nahm sie nun in den Arm und der Duft von Erde und Pfefferminz, der sie stets umgab, tat Anna so gut wie einem kleinen Kind der Duft der Mutter, wenn es sich das Knie aufgeschlagen hat. Maria wischte ihr die Tränen ab. Sie stand auf und goss ihr Wasser in die Tasse, aus der ein Zitronenmelissenstängel ragte. Annas Blick folgte ihren etwas beschwerlichen Bewegungen. Maria war mit ihren dreiundsiebzig Jahren nicht mehr die Jüngste. Sie trug ihre noch erstaunlich dunklen Haare zu einem lockeren Knoten hochgesteckt, wie immer, und ein bodenlanges indisches Kleid gab ihr das Aussehen, als sei sie irgendwo in den späten Neunzehnhundertsechzigern hängen geblieben. Aber sie strahlte eine solche Kraft und Würde aus, dass niemand jemals auf die Idee gekommen wäre, sie damit lächerlich zu finden. Anna merkte, wie viel Liebe sie für diese alte, so jung gebliebene Frau empfand.

„So..." Maria setzte sich wieder an den Tisch, stellte Anna die dampfende Tasse Tee vor die Nase und zündete die Kerzen an, die in der Mitte des Tisches direkt neben einem großen Tarotdeck lagen. Sie drückte es Anna in die Hände.

„Dann lass uns mal sehen. Willst du mischen?",

Anna mischte und Maria legte eine einfache Variante, die sie sich für solche klaren Fragen ausgedacht hatte. Eigentlich war es sogar so, dass Maria gar keine Karten brauchte. Sie war so sensibel, dass sie eine Person nur anzublicken brauchte, um Informationen zu erhalten. Aber mithilfe der Kartensymbole konnte sie vieles erklären, und oft lösten sie in ihr auch eine Art innerer Diashow aus, die ihr die Situationen noch deutlicher machten.

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