Stella spürte, wie ihre Mutter ihr sanft über die Wange strich. Eine frische Wolke von Annas Duschgel umwehte ihre Nase. Aus der Küche hörte sie leise das Frühstücksradio und Tassengeklapper. Die Badezimmertür fiel zu und draußen tröpfelte ein schwächlicher Regen gegen die Fensterscheibe des Kinderzimmers. Es war Zeit aufzuwachen.
„Stella mein Engel! Es ist Zeit, aufzustehen... Ein neuer Tag beginnt." Die Stimme ihrer Mutter war sanft. So sanft wie morgens war sie sonst nur, wenn Stella sich verletzt hatte. Es war für Stella jeden Morgen eine Qual aufzuwachen. Etwas schien sie mit aller Macht im Traumland halten zu wollen, und der Morgen kroch wie ein graues Ungeheuer unter ihre schlafwarme Haut. Abends konnte sie kaum einschlafen, so sehr freute sie sich auf den nächsten Tag. Aber wenn sie aufwachen sollte, wollte sie sich nicht von der Stille der Nacht trennen. Anna wusste das, und deshalb ging sie so behutsam sie nur konnte mit ihrer kleinen Tochter um.
Heute war der Widerwille in Stella besonders groß. Sie zog sich die Decke bis zur Nase und drehte sich von ihrer Mutter weg. Anna gab ihr einen Kuss und ging noch einmal aus dem Zimmer.
Es war der Tag, an dem sie in der Klasse die Plätze tauschen würden. Das hieß, dass Stella nicht mehr neben ihrer besten und einzigen Freundin Alice sitzen durfte. Alice war aber die einzige, neben der Stella sitzen mochte. Sie war auch die einzige, die nicht lachte, wenn Stella von Dingen sprach, die niemand zu verstehen schien. Sie hatte schon früh gemerkt, dass keins der anderen Kinder jemals mit einem Engel gesprochen hatte. Nachdem sie zu Anfang ein paar Male versucht hatte, mit den anderen Kindern darüber zu reden, hatte sie sich bald fest vorgenommen, nie wieder auch nur ein Wort davon zu sagen. Aber natürlich hatten die anderen Kinder längst ihren Spottnamen für sie gefunden: Spinnerella.
Nein, nein, nein. Stella wollte nicht, dass sie an einem anderen Platz sitzen musste. Aber Frau Katzbach machte das jedes Quartal so. Alle Kinder sollten einander kennen lernen, und niemand durfte länger an seinem Platz sitzen bleiben. Auch nicht Stella und Alice. Das Vierteljahr neben Alice war das Beste in diesem, ihrem 1. Schuljahr gewesen.
„Stellamäuschen... jetzt ist es aber wirklich Zeit! Komm mein Schatz. Inga hat dir Pfannkuchen gemacht!" Annas Stimme kam von der Tür und mit ihr ein himmlischer Geruch, dem es gelang, Stellas trübe Gedanken erstmal zu vertreiben.
Mühsam quälte sie sich aus dem Bett. Fünf Schritte und sie war an der Tür. Anna nahm sie an die Hand.
„Na, mein Morgenmuffelchen – gut geschlafen?"
„Mhm..." Stella seufzte. Gleich würde ihre Mutter sie wieder nach ihren Träumen fragen, und sie konnte sich leider kaum noch daran erinnern. Das, was sie noch wusste, konnte sie in keinerlei Worte packen. Es waren eher Ahnungen als klare Erinnerungen.
„Und – hast du was Schönes geträumt?"
„Weiß ich nicht mehr." Anna strich ihr über den Kopf.
„Das ist doch schon mal gut. Wenn es was Schlimmes gewesen wäre, könntest du dich bestimmt dran erinnern." Das war Annas Standardantwort, und Stella musste nichts darauf erwidern. Doch diese Annahme war leider allzu oft falsch. Heute zum Beispiel. Irgendetwas sagte ihr, dass ihr Traum alles andere als angenehm gewesen sein konnte... Eine Schwere lastete auf ihr, und sie fühlte, wie ihr Ariana über die Seele strich. Ariana und Celestos waren die beiden Engel, die sie, seit sie denken konnte, begleiteten. Sie war unendlich froh, dass sie bei ihr waren und sie in allem unterstützten. Sie konnten hören, was Stella dachte und fühlte und Stella hörte sie manchmal, wenn sie mit ihr redeten oder sich miteinander unterhielten, oder spürte sie, wenn sie sie wie jetzt trösten wollten. Nicht immer machten sie sich bemerkbar, aber sie konnte stets fühlen, dass sie von ihnen beschützt wurde, und das war gut. Nur ein einziges Mal hatten sie ihr nicht geholfen, als sie in Not war, und das war vor vier Monaten gewesen, als Britta sie aus dem See hatte fischen müssen. Vermutlich hatten sie gewusst, dass Hilfe von anderer Seite zu ihr kommen würde.
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Der Dachgarten
General FictionEigentlich hätte es Brittas letzter Gang sein sollen. Ausgestattet mit einer Zyankalikapsel will sie alles hinter sich lassen - vor allem sich selbst. Doch dann stürzt vor ihr das blinde Mädchen Stella ins Wasser, und Britta rettet ihr das Leben. Da...