~etwa ein halbes Jahr später~
*POV Stegi*
Wie schon sooft stehe ich hier neben Tim, während er allen seinen alltäglichen Aufgaben nachgeht. Doch wie immer ahnt er nichts davon, kann mich weder sehen, noch mit mir reden und genau das ist es, was mich trotz der Umstände immer wieder aufs Neue traurig macht. Meine Mehr-oder-weniger-Existenz kann ich mir noch immer nicht erklären, aber ich habe mich inzwischen damit abgefunden, dass ich anscheinend in der Lage bin, meine Bekannten zu ‚besuchen', während diese mich aber nicht wahrnehmen können. Auf eine komische Art und Weise kam mir dieses Gefühl seit Anfang an bekannt vor. So unnütz zu sein, dazu verpflichtet den Leidenden zuzusehen und doch nichts dagegen machen zu können. Und eines Tages erinnerte ich mich dann an meinen Albtraum zu der Zeit, die ich noch bei Tim verbracht hatte. In dieser einen Nacht damals, hatte Tim mich geweckt, weil ich im Traum geschrien habe. Ich hatte geträumt, dass ich tot wäre und denen, die ich zurücklassen würde, dabei zuschauen müsste, wie sie daran zerbrechen. Daraus ergab sich dann auch meine Angst genau davor. Davor, dass sie nicht mehr lachen würden, dass sie ihre fröhliche Art verlieren würden.
Meine jetzige Gestalt und deren Möglichkeiten Dinge zu tun ähneln der aus dem damaligen Traum unglaublich stark und dennoch ist es so...anders. In dem Traum sah ich ihnen beim Leiden zu, doch nun sehe ich, wie sie sich gegenseitig stärken und langsam immer besser mit dem Verlust klarkommen. Anfangs saß ich jeden Abend bei meiner Familie und Tim und habe ihnen beruhigende Worte zugeredet, in der Hoffnung, ihnen Halt zu geben. Dass diese Worte sie nie erreichen habe ich mittlerweile eingesehen, aber dennoch rede ich manchmal mit ihnen, wenn sie mal wieder aus einem Albtraum aufschrecken oder nachts alleine unterwegs sind, inzwischen jedoch mehr für mich selbst. Denn es beruhigt mich irgendwie, nimmt mir ein Stück das Gefühl der Einsamkeit und lässt mich glauben nicht ganz so unnütz zu sein. Eigentlich lächerlich.
Meine Familie hat zusammengehalten, ist vielleicht sogar noch mehr zusammengewachsen und auch die Depressionen meiner Mutter nehmen langsam wieder ab, nachdem sie sich endlich einen Psychologen zur Hilfe genommen hat. Tim ist in eine Wohnung nur eine Straße weiter von meiner Familie gezogen, um seinem Versprechen an mich, für sie da zu sein, zu halten. Wie gerne ich mich dafür bei ihm bedankt hätte, wie gerne ich ihm sagen würde, wie stolz ich auf ihn bin, doch all das ist mir nicht möglich. Er führt sein Leben weiter, trifft sich noch mit Freunden, spielt weiterhin Basketball und wenn auch die Zeit, die er alleine verbringt deutlich zugenommen hat, lebt er. Und er lächelt sogar hin und wieder.
Alleine mit YouTube hat er aufgehört. Seinen Kanal hat er geschlossen, ohne eine weitere Begründung zu liefern, aber das wäre auch nicht nötig gewesen. Nachdem er das Video auf meinem Kanal hochgeladen hatte, war wohl allen Zuschauern klar, dass Tim nicht weitermachen wollte, nachdem ich aufgehört hatte und ich kann ihn ebenfalls verstehen. Zu viele Erinnerungen an vergangene Zeiten, gemeinsame Aufnahmen und die YouTube-Zeit, in der wir uns erst kennengelernt haben. Doch ansonsten läuft sein Leben weiter. Vielleicht mehr strukturiert als sonst, um sich an etwas Konkretes halten zu können und mit einigen Tagen, an denen er im Bett bleibt und sich den stummen Tränen hingibt, oder meine Familie besucht. Doch sein Lachen hat weder er, noch meine Mutter, mein Vater oder meine Schwester verloren. Und das ist das, was zählt.
Jetzt gerade laufe ich an einem Donnerstagabend neben Tim durch die dämmernden Straßen von Karlsruhe und muss nur einen Blick auf den Wochentag werfen, um erahnen zu können, wo unser Weg hinführt. Denn jeden Donnerstagabend verlässt Tim das Haus, um auf dem Friedhof mein Grab zu besuchen und anschließend zu der Brücke, bloß zwei Querstraßen weiter zu gehen. In Essen gab es diese eine Brücke, einer seiner Lieblingsplätze, die er mir gezeigt hatte und da wir nicht mehr in Essen sind, nimmt er nun diese Brücke, um einen Ort zu haben, den er mit mir verbindet. So jedenfalls meine Theorie.
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Stexpert ~ Freunde
FanfictionWas macht ein Mensch wenn die Diagnose 'Akute Leukämie' lautet? Die Welt erkunden? Reisen? All das, was man sich schon immer erträumt hat? Und was ist, wenn das nicht möglich ist? Wenn der letzte Wunsch ein vollkommen anderer ist? Stegi findet sich...