Das ist der schönste Ausblick, den ich je hatte. Ich bin keine Mutter und habe noch nie eine Geburt außer meine eigene erlebt und so kann ich das jetzt nicht vergleichen. Doch wenn diese Frauen sagen, dass dies der schönste Augenblick in ihrem Leben gewesen sei, dann haben sie das hier noch nicht gesehen. Denke ich zumindest.
Vor uns beiden liegt ein Tal, dass sich in dem flammenroten, orangen, aber auch gelblichen Sonnlicht zu baden scheint. Die Übergänge zwischen den einzelnen Farben scheinen kein Ende zu haben, so tief und weit gehen sie. Es wachsen einige, verschiedene Bäume vereinzelt und um sie herum ist ein Teppich aus Blumen. Schon von bestimmter Entfernung, kann ich Rosen, Tulpen, Rittersporn, Mohn und Ringelblumen erkennen. Irgendjemand muss regelmäßig hierherkommen und sich um die ganzen Pflanzen kümmern. Die Frage ist bloß, wie und warum? Es ist doch mittendrin im Wald. Ich drehe mich zu meinem Schulkameraden um und bemerke, dass er mir plötzlich viel näher ist als zuvor. Physisch gesehen. Wann hat er sich denn bewegt, sodass ich gar nichts mitbekommen habe.
"Es ist wunderschön.", stottere ich fast. Seine Augen strahlen noch mehr. Geht das überhaupt? Sie sehen aus wie flüssiges, glänzendes, unglaubliches schönes Silber. Moment. Habe ich gerade gedacht, dass seine Augen unglaublich schön sind? Nie im Leben, das darf nicht sein! Ich darf mich nicht in ihn verlieben. Es geht einfach nicht. Was passiert, wenn er mich so verletzt, wie wahrscheinlich der alte Freund von Alice es getan hat? Ich weiß nicht, ob ich das vertragen kann. Eher nicht, nicht noch einmal.
„Ja nicht wahr? Ich habe den Platz erst vorhin gefunden. Ich finde dieser Platz etwas schon fast Magisches an sich.", erzählt er mir begeistert. Da kann ich nur zustimmen. Ein kleines Nicken folgt meinem Gedanken. Zu etwas Anderem bin ich momentan nicht in der Lage, da ich immer noch von diesem Anblick überwältigt bin.
Es vergehen einige Minuten bis wir und wieder auf dem Weg nach Hause machen. Es hat sich eine entspannende Stille über uns gelegt. Irgendwann mittendrin beginnt Mason, eine mir viel zu bekannte Melodie zu summen. Mist, ich wusste was das für ein Song war! Irina, denk nach, du kannst das. Das ist es! Wannabe. Soll ich ein bisschen warten, um den Überraschungseffekt zu stärken oder einfach so darauf lossingen? Gute Frage, nächste Frage. Ach egal, ich bin flexibel. Als er die erste Strophe beginnt, singen wir im Chor.
Während des Songs wirft er mir ein paar geschockte, teilweise aber auch amüsierte Blicke zu. Im Takt nicke ich mit meinem Kopf. Hat er etwa gedacht, ich kenne keine etwas älteren Lieder? Junge, junge, da hast du dich ziemlich getäuscht. Am Ende spiele eine ehrenhafte Verbeugung nach und drehe mich zu Mason.
„Du hast mir nicht gesagt, dass du singen kannst.", beschuldigt er mich. Ist das sein Ernst?
„Naja, es ist ja nicht so wichtig.", verteidige ich mich mickrig.
„Als ob!", brummt er missgelaunt.
„Hey, du hast mir aber auch nicht gesagt, dass du singst.", weise ich ihn hin.
„Das ist aber nicht das gleiche.", offenbart er mir. Mit wem rede ich hier nochmal? Mason oder mein fünfjähriger Sturkopf von Cousin?. Glaubt mir, er ist eine reine Plage.
„Pff", schnappe ich zurück. Das lasse ich mir nicht bieten. Allerdings will ich auch keinen Streit.
„Den Refrain haben wir aber gerockt.", versuche ich es noch einmal.
„Ja! Aber so richtig!", stimmt er mir zu und kramt kurz in seiner Tasche herum. Bis eine lilafarbene Folie zu sehen ist.
„Schokolade?", erkundigt er sich.
Einfach so, oder? Es ist ja auch völlig normal, eine Tafel Schokolade in seiner Jackentasche mit sich zu schleppen, während man im Wald ist, oder? Dieser Junge ist komisch, eindeutig. Aber gegen Schokolade habe ich nie etwas. Erst recht nicht, wenn er schon so nett fragt. Ich nicke begeistert. Er reicht mir eine Portion.
„Das ist meine Lieblingssorte, die mit ganzen Nüssen.", berichtet er mir.
„Naja ich finde die mit Oreos ganz cool.", teile ich ihm mit. Seine Augenbrauen heben sich überrascht.
„Was? Warum genau die? Die sind doch am schlimmsten!", ruft er laut aus. Wären wir woanders gewesen, hätte ich ihn gemahnt, dass er gefälligst leiser sein soll, doch hier im Wald hört uns doch sowieso keiner. Bei dem Gedanken muss ich grinsen. Ähem. Pedosmiley. Ähem.
Die nächsten gefühlten Stunden diskutieren wir darüber, was die beste Sorte von Cadbury ist. Irgendwann beginnt es dann auch zu reden, was uns unser Tempo um einiges erhöhen lässt. Aber eigentlich ist es doch egal. Wir werden sowieso patschnass Zuhause ankommen. Da ändern jetzt zehn Minuten oder so auch nichts daran. Ich hasse Regen....
Als wir wieder in der mir vertrauten Straße ankommen, bleiben wir vor meinem Haus stehen.
„Du kannst auch gerne zu mir kommen. Ich bin mir sicher meine Eltern haben nichts dagegen.", ladet Mason mich freundlich ein. Bei mir ist Keiner Zuhause und besonders Lust aufs alleine sein habe ich nicht. Ich nicke und gemeinsam drehen wir uns um und klingeln an seiner Haustür.
Ich habe schon halbwegs damit gerechnet, dass sein Vater oder so uns auf machen würde. Aber als jemand die Tür öffnet und ich sehe wer da vor mir steht , bleiben meine Worte mir im Hals stecken.
Es hätte ja auch seine Mom sein können. Aber doch nicht ein junger Mann mit seinem Arm um eine mir viel zu bekannte Person. Nämlich niemand anderem als meine beste Freundin Alice. Hat sie nicht gesagt, dass sie zu ihren Großeltern fahren würde? Das ich verwirrt oder geschockt bin, wäre minimal untertrieben. Minimal. Wäre jemand so nett und würde mich aufklären? Freundlicherweise?

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Honest Humans
Teen Fiction"Wer den Weg der Wahrheit geht, stolpert nicht." - Mahadma Ghandi Oft neigen wir dazu, einfach zu lügen, doch ehrlich sind wir zu uns selbst nur selten. Dies ist so ziemlich auf alle Situationen übertragbar. Mason Moore ist absolut inakzeptabel, une...