Noch nie bin ich ein gewaltsamer Mensch gewesen. Es dauert lange und benötigt viel Stress oder Provokation, um mich wütend zu machen. Eigentlich bin ich nie sauer. Meine Mühe besteht darin, in möglichst vielen Situationen neutral zu bleiben. Wegen mir ist bis jetzt keine Fliege gestorben. Oder ein anderes Tier.
Allerdings scheint es, als ob das nicht für jeden Pubertierenden gilt. Im Unterricht brauche ich in der Regel nie Ewigkeiten, um etwas zu verstehen. Doch diese Szene vor meinen Augen, in der wirklich realen Welt, kann sich mein dummes Gehirn nicht zusammenreimen. Ich meine, vorgestern hat Alice noch mit Louis rumgemacht und jetzt verpasst sie ihm eine saftige, schellende Ohrfeige. Die Frage, ob ich nicht mehr mitkomme kann ich mir an dieser Stelle eindeutig sparen. Mein Inneres beschließt, ruhig zu bleiben und dem Geschehen zu folgen. Meine beste Freundin wird schon einen guten Grund haben, wenn sie ihm wehtut. Ich frage mich ja nur, was er angestellt hat.
„Du bist so ein dreckiges Schwein! Schau nur, dass du verschwindest! Ich dachte, ich könnte dir vertrauen!", brüllt sie. Wenn man ihr Gesicht betrachtet, so weiß man, dass sie mit dem Reden noch lange nicht fertig ist.
Jedoch treten immer mehr Passanten in den Hauptflur und auch die Dunkelhaarige scheint dies zu begreifen. Schlau genug. Sie packt ihren Freund am Arm und zerrt ihn aus der Schule, hinaus in den Pausenhof und Parkplatz. Dies ist eine private Angelegenheit, die nicht unbedingt jeden etwas angeht. Zu meiner Überraschung lässt sich Louis willig mitziehen und ins Gesicht brüllen. Sie stehen jetzt am Rande des Schulgeländes und diskutieren lautstark. Ich bin den beiden gefolgt und beobachte das Ganze aus nicht allzu weiter Entfernung. Mason tat dasselbe und befindet sich in diesem Moment links von mir. In der Hoffnung eine meiner Fragen beantwortet zu bekommen, versuche ich, ein Gespräch zu starten.
„Hey, weißt du was passiert ist?"
Sein Kopf dreht sich zu mir und seine Augen starren für wenige Sekunden in meine, bevor er ihn schüttelt. Dieser kleiner Augenblick erfordert auf einmal meine ganze Selbstbeherrschung um nicht förmlich zu schmelzen. Blau ist schon immer meine Lieblingsfarbe gewesen und nun verfüge ich über eine genaue Definition des Farbtons. Seine Augen.
„Ich weiß es auch nicht. Was kann er nur getan haben?" Den letzten Satz spreche ich eher zu mir selbst, doch so wie wir Mason Moore kennen, so hat er für alles eine Antwort.
„Ich vermute ja das Übliche."
„Das Übliche?", wiederhole ich verwirrt.
Was meint er damit?
„Du weißt schon. Fremdgehen, Fremdfischen oder wie ihr es auch nennt, mit einem anderem Mädchen rummachen, obwohl ich letzteres bezweifele denn Alice ist doch toll, wieso sollte er schon ein Anderes daten.", erklärt er mir selbstsicher.
„Das möchte ich für ihn hoffen.", knurre ich, während ich über den letzten Teil seines Satzes nachdenke. Er würde sie doch nicht betrügen, oder?
„Haltest du es für möglich?"
„Wahrscheinlich ist es lediglich ein Missverständnis.", teilt er mir seine Gedanken mit. Das überrascht mich jetzt. Ich verlagere mein Gewicht an meinem Standbein anders als vorhin und sehe ihn genau an. Er sieht wie immer aus. Trägt die gleiche Jeans, das Shirt, Jacke wie bei Break The Limit. Doch irgendetwas ist anders.
„Seit wann denkst du denn so optimistisch?", erkundige ich mich. Er zuckt nur mit den Schultern.
Damit ist das Gespräch beendet. So scheint es zumindest. Vor wenigen Tagen sprach und unterhielt er sich gerne mit mir, doch heute scheint er wie ausgewechselt zu sein. Was ist nur mit den Leuten los? Habe ich ihm irgendetwas getan, von dem ich nichts weiß? Ich hoffe jedenfalls, dass das Pärchen vor uns ihre Probleme lösen und bald nicht mehr herumschreien. Also wirklich, schreien ist nicht das richtige Wort. Andererseits ist lautstark auch nicht passend.
Wir stehen also still da und beobachten das Geschehen vor uns. In Gedanken füge ich noch die bedrückte Hintergrundmusik hinzu, wie es sich in jedem viel zu kitschigen Film gehört. Es vergehen Sekunden, Momente, Augenblicke und Minuten, bis die beiden sich zu uns wenden. Jeder jedoch, in eine etwas andere Richtung, jeweils mit anderen Emotionen.
Aufgrund meiner Rolle als bester Freundin stelle ich mich auf ihre Seite und beschließe, sie später nach der Vorgeschichte zu fragen, um sie besser zu verstehen. Mittlerweile trennen uns nur noch wenige Schritte und um diese Zeit zu verkürzen setze ich mich ebenfalls in Bewegung.
Alice wirft sich in meine Arme und grabt ihr Gesicht in meinen Nacken. Tja der Größenunterschied wird eben immer zwischen uns sein. Ich erwidere die Umarmung und drücke sie fester an mich. Wenn ich jemals Probleme gehabt habe ist sie für mich da gewesen und hat mich getröstet oder wieder aufgebaut. Dasselbe für sie zu tun ist das Mindeste was mir bleibt.
Die ersten Tränen bahnen sich auf ihre Wangen. Auch wenn ich sie nicht sehen kann, so kann ich sie sehr wohl auf meinem dünnen braunen Pullover spüren. Vorsichtig streiche ich ihr wie vorhin über den Kopf.
„Wie wäre es wenn wir uns auf den Weg ins Rests machen und jeweils eine Tasse trinken?", flüstere ich ihr ins Ohr. Es dauert nicht lange, bis sie kurz nickt.
Meine Neugier ist zu groß, um meinen Blick zu den zwei Brüdern zu stoppen. Die Beiden haben sich den Gehen gewendet, jedoch fängt Mason meinen Blick, den seine Augen hatten meine schon gefunden. Ohne etwas zu sagen versuche ich ihm still diese Frage zu stellen.
Können wir später reden?
Er schien es verstanden zu haben, denn er überlegte kurz bevor er den Kopf schüttelte. Seine Reaktion erschuf einen Schmerz in mir, der mich in die Magengrube boxte. Ich ignorierte diesen und startete einen zweiten Versuch.
Wieso?
Dieses Mal schüttelte er einfach nur den Kopf und drehte sich ohne ein weiteres Wort oder Blick um. Er legte seinen Arm um die Schulter seines älteren Bruders und schob ihn mit sich mit.
Ich hielt Alice noch eine lange Zeit im Arm, bevor sie begann sich aus meinem Griff zu lösen. Mit roten Augen sah sie mich an, während sie sich ihren Schal neu um ihren Hals band.
„Kann es eine große Tasse sein?", fragt sie mit ihren wunderschönen Grübchen. Dies lässt mich lächeln. Ein sehr, sehr sanftes Lächeln.
„Sicher. Weist du schon welche Sorte du möchtest?", möchte ich wissen. Alice Farrel ist stark. Unglaublich stark und tapfer. Nichts bringt sie in den Ruin. Noch nicht einmal ein Junge. Etwas minderes habe ich auch gar nicht von ihr erwartet.
„Earl Grey.", antwortet sie mir. Das ist ihre absolute Lieblingssorte. Ich nicke und hake mich bei ihr ein.
„Na dann. Worauf warten wir dann noch?", erkundige ich mich überflüssig. Wir gehen durch die Schule, durch den Hauptflur, wo uns nicht wenige Menschen verwirrte wie auch belustigte was ich überhaupt nicht verstehen kann Blicke zuwerfen und hinein in eine paradiesische Oase, die sich zufälligerweise Raum für die Schüler der Oberstufe nennt und über alles verfügt, was sich Menschen und besonders Schüler im 21. Jahrhundert wünschen. Wir haben einen Fernseher, gutes WLAN, bequeme Sofas mit Kaffeetischen, Tische die eigentlich nur zur Ablage dienen, einen Schrank mit Tassen und einen Wasserkocher, neben dem eine Schachtel mit Teebeutel liegt.
Dieses Zimmer nennt sich Rests und ist genau der Ort, an dem wir uns am besten befinden sollten.
Als wir es betreten finden wir eine unglaubliche Leere vor und uns sehen nur die dunkelgrau gestrichenen Wände entgegen.
Nachdem der Tee gezogen hat und wir es uns auf einem schwarzen Ledersofa gemütlich haben, beginne ich die Inquisition.
„Was ist passiert?"
Sie setzt sich ein wenig höher. Ihr Blick ist stur gerade nach vorne gerichtet und ihr Gesicht verrät keine Emotion.
„Doreen. Das ist passiert." Falls ich sie kennen sollte, so tut es mir leid. Ich tue es nicht. Jedoch steht eines fest. Dieses Mädchen muss etwas schlimmes angerichtet haben, um so ein gefühlloses Gesicht bei meiner besten Freundin zustande zu bringen. Denn Alice ist der gefühlvollste und fröhlichste Mensch, den ich kenne. Ich habe nicht allzu viele Erfahrungen mit traurigen Leuten, jedoch habe ich schon viele Serien und Filme in meinem Leben angesehen. Was ich damit meine, vielleicht hat Mason ja recht und es war tatsächlich das Übliche. Vielleicht, aber nur vielleicht hat Louis Alice ja tatsächlich betrogen.

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Honest Humans
Ficção Adolescente"Wer den Weg der Wahrheit geht, stolpert nicht." - Mahadma Ghandi Oft neigen wir dazu, einfach zu lügen, doch ehrlich sind wir zu uns selbst nur selten. Dies ist so ziemlich auf alle Situationen übertragbar. Mason Moore ist absolut inakzeptabel, une...