Kapitel 20

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Erst als ich das Haus verließ, fiel mir das herrliche Wetter auf.

Noch nie bin ich diese bestimmte Art von Mensch gewesen, der die Natur interessant und faszinierend findet. Zugegeben, ich liebte es in Wäldern spazieren zu gehen oder den Regen auf das Dach über meinem Bett fallen zu hören.

Doch in den Ferien oder am Wochenende war mein Zimmer für mich immer die erste und beste Wahl. Klassische Musik und etliche Tassen schwarzen Tees begleiteten mich dann durch den Tag. Alice war oft nicht Zuhause und sehr beschäftigt durch ihre vielen einzigartigen Hobbies, was mich regelmäßig alleine ließ. Aufgrund dessen litten auch meine fast nicht existenten sozialen Kompetenzen darunter.

Ich freute mich jedes Mal so sehr für sie, wenn sie mir von ihren Erfolgen erzählte. Es tat wirklich gut zu wissen, dass man eben diese eine Ansprechperson hatte, zu der man stets kommen konnte und anders herum.

Genau in dem Augenblick, als ich in tiefen Zügen die frische Luft einatmete wurde mir erst bewusst, dass der Frühling bald in vollem Gange sein würde. Langsam stiegen die Temperaturen und so wahrscheinlich auch die Stimmung vieler Menschen, dessen Lieblingsjahreszeit Sommer war. Wie gerne würde ich draußen etwas machen. Die Angst jemanden zu treffen und Small Talk führen zu müssen war allerdings bis zum jetzigen Punkt sehr groß.

Mit kurzen Schritten folgte ich dem Weg der Einfahrt hinunter. Ein schwacher Wind zog langsam durch die Luft und zerzauste leicht mein Haar.

Ich war, es immer noch nicht gewohnt sie so kurz zu tragen. Wo sie einmal früher über die Hälfte meines Rückens flossen, berührten sie jetzt gerade noch die obersten Zentimeter meiner Schulterblätter. Dies war Leninas Werk. Gestern Abend sitzen wir zusammen im Wohnzimmer und sehen uns eine Folge von Sherlock an, als sie plötzlich eine dicke Strähne in die Hand nimmt, dreht, streicht und mich schlussendlich fragt: „Bist du eigentlich zufrieden mit deiner Frisur?"

Danach geschah alles ziemlich schnell und eine Stunde später hatte ich eine neue Haarlänge.

Heute wird anders werden, sage ich mir. Es wird alles prima und super verlaufen, ohne Konflikte oder Probleme.

Mason stand wie heute Vormittag schon vor der Tür. Was machte er nur die ganze Zeit? Gar nichts?

„Hey.", begrüße ich ihn, als ich wenige Schritte entfernt vor ihm stehe. Nervös ziehe ich an meiner Kleidung, in der Hoffnung sie perfekt richten zu können. Er nickt gelassen und umarmt mich kurz. Danach tritt er zur Seite und streckt seinen Arm durch die Haustür in Richtung Flur.

„Komm doch rein.", lädt er mich ein. Ich lächle.

Er überließ mir gentlemanlike den Vortritt ins Haus. Hinter mir hörte ich, wie er rasch die Tür wieder schloss.

„Wie geht's?", erkundige ich mich unverbindlich. Fragend drehe ich mich nach ihm um.

Seine Aufmerksamkeit war allerdings anfangs nicht mir gewidmet, sondern eher einer bestimmten Haarsträhne von mir, die er sanft mit seinen Fingern hielt und rieb. Ich räusperte mich kurz. Er sah leicht abwesend auf.

„Klar, mir geht's gut und dir?" Sein Blick nahm mich nun im Ganzen wahr.

„Äh, ja bei mir passt alles." Verwirrt zucke ich mit den Schultern bevor ich ihn wieder ansehe. Wieso ist es auf einmal so komisch zwischen uns, wenn wir reden? Wieso ist da so ein Strahlen in seinen Augen, das vor ein paar Minuten noch nicht da war?

„Deine neue Frisur übrigens sieht toll aus. Es passt zu dir.", lächelt er mich freundlich an.

Ihm ist es also doch aufgefallen. Dank meiner Kindheit, die ich viel mit meinen drei russischen Cousins verbringen durfte, wusste ich, dass Jungs generell nicht einfach so einem Mädchen ein Kompliment geben.

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