[The Newcomer] ☆Siebtes Kapitel☆

124 13 10
                                    

„Wie bitte, was?" Auf einmal war mir ganz kalt. Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich, merkte, wie das Zittern einsetzte, dann rutschte ich an der hellgelb gestrichenen Wand hinunter und starrte abwechselnd die gegenüberliegende, burgunderrot gestrichene Wand und den Parkettfußboden an. Ich zog die Knie an und legte das Kinn auf der Stütze ab. Tränen benetzten meine Haut.
„Ich sag's dir doch", sagte die Stimme auf der anderen Seite des Hörers. Sie klang klein und zerbrechlich und das war sie auch. Judy war von uns allen die Jüngste und wenn ich richtig gezählt hatte, war sie gerade jetzt erst acht geworden. Acht! Und dabei so ein schlaues Köpfchen. Mich anzurufen war eine gute Idee von ihr gewesen, schließlich war ich erwachsen, hatte den Führerschein und könnte bald bei ihr sein. Aber da hatte sie die Falsche angerufen. Sie hatte die Schwester angerufen, die gerade kurz davor stand, eine Rolle zu bekommen. Sie hatte mich angerufen.
„Ich glaub es dir ja, Schätzchen", flüsterte ich. Und obwohl ich wusste, dass ich die Kleine damit verletzte, setzte ich hinzu: „Meinst du, ihr könnt noch zwei Tage auf mich warten?" Am anderen Ende der Leitung war es still, nur Atemgeräusche legten den meilenweiten Weg in Sekundenschnelle zurück. Es dauerte, bis die zittrige Stimme sich wieder zu Wort meldete.
„Wo bist du, Becks?" Jetzt war es an mir, zu atmen. Ein aus, ein aus.
„Seattle. Schätzchen, ich würde wirklich gerne kommen, aber-"
„Du verstehst es nicht, oder?" Das kleine Stimmchen war lauter geworden, kaum mehr vergleichbar mit Vorher. „Du verstehst gar nicht, dass das wichtig ist!"
„Judy, ich..."
„Du weißt, was passieren kann! Du weißt, was mit uns allen passieren kann!" Ein Knistern in der Leitung, ein schriller Ton, dann Stille. Ich drückte auf den roten Hörer. Begrub das Gesicht in den Händen. Weinte. Kurz fragte ich mich, ob ich darum weinte, meiner Familie nicht helfen zu können. Dann wusste ich, dass ich weinte, weil ich meine Karriere aufgeben musste.

„Ich muss sofort abreisen", hatte ich dem Mann an der Rezeption unten im Forum des Studios gesagt, bevor ich mit meinem Koffer in der Hand verschwunden war. Der graue Vorplatz des riesigen Gebäudekomplexes hatte einsam und verregnet dagelegen, keine Menschenseele weit und breit. Rückwärts war ich gegangen, als ich das Gelände verließ, weinend. Doch die Tränen hatten sich mit dem Regen vermischt und ich hatte aufatmen können. An der Pforte sagte ich der Frau in blauer Security-Uniform, dass sie mich rauslassen solle, ich habe es eilig. Sie hatte nicht mal nach dem Grund meiner plötzlichen Abreise gefragt. Ich war weitergegangen, einem Straßenschild folgend, das mich zur Innenstadt von Seattle leitete. Und hier stand ich nun – bis auf die Haut durchnässt saß ich auf meinem alten, zerschlissenen Lederkoffer und beobachtete die Leute, die geschäftig von A nach B liefen ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Eine Weile blieb ich hier sitzen und wartete, ohne zu wissen, worauf. Irgendwann dann stand ich auf und lief zur nächsten Bushaltestelle. Es sah aus, als hätte jemand eine ganze Mülltonne auf diesem Streifen des Gehweges ausgeschüttet und es kostete mich einige Mühe, nicht auf Bananenschalen oder Dosen auszurutschen. Inmitten all dieses Mülls stand ich, den Koffer in der Hand und wartete auf den Bus. Irgendwann kam dann auch einer, laut röchelnd und Wolken von Abgasen in die feuchte Luft ausstoßend. Ich verzog das Gesicht, stieg über die Müllhalde hinweg und direkt in den Bus hinein, bezahlte, setzte mich. Eine Weile rieb ich meine Handflächen aneinander, oder genauer gesagt, bis mir die ältere Dame, die neben mir saß, einen Blick zuwarf, der so viel bedeutete wie „Entweder du nimmst deine verdammten Hände auseinander oder ich kratz dir die Augen aus." Daraufhin blieb ich still sitzen, den Kopf in den Nacken gelegt. Ab und zu hielt der Bus, jedoch selten. Lange Strecken rumpelte er über teils ebene, teils über durch Schlaglöcher halb zerstörte Straßen. Bei der dritten Station stieg die alte Frau aus; wir hatten Seattle noch immer nicht verlassen.
Ich musste eingeschlafen sein, denn der Bus hatte sich merklich geleert, als eine Stimme mich hochschrecken ließ: „Warst du auch shoppen? Ich dachte ja, du hättest noch eine Runde vor dir. Darf ich?" Instinktiv rutschte ich nach rechts hinüber und machte Platz für den Typen, der mich angesprochen hatte. Es war Thomas. Und er hatte das Psychogrinsen im Gesicht. Ich sah ihn kurz an und schwieg. Ich wollte ihm nichts von meiner verkorksten, kriminellen und viel zu großen Familie erzählen. Erst recht nicht jetzt, wo ich gerade dabei war, das Casting zu verlassen.
„Becca? Alles okay?", setzte er an, wurde aber von einem Mädchen unterbrochen, das ihm auf die Schulter tippte. Gleichermaßen verdutzt und erstaunt glotzte ich das Kind - es musste etwa dreizehn sein - an, das sich jetzt auf die Zehenspitzen stellte und Thomas allen Ernstes um ein Autogramm bat. Gutmütig beugte Thomas sich ein Stück hinunter und kritzelte mit einem Bleistift schnell etwas auf ein Stück Papier. Glückselig bedankte das Mädchen sich bei ihm und ließ sich auf ihren Sitz fallen, den Zettel mit der Unterschrift an ihre Brust gepresst. In der Zeit hatte ich nicht untätig herumgesessen, sondern war aufgestanden, hatte mich unauffällig an Thomas und dem Mädchen vorbeigeschoben und wollte den Busfahrer gerade bitten, kurz anzuhalten, mir sei schwindelig, als sich kühle Finger um mein Handgelenk schlossen. Ich seufzte und versuchte, eine möglichst ausdruckslose Miene aufzusetzen, als ich mich umdrehte. Thomas und ich waren beinah auf Augenhöhe und es fiel mir schwer, in seine schokobraune Iris zu schauen.
„Lass mich in Ruhe, Thomas", sagte ich, und obwohl meine Stimme kalt klang, zitterte sie doch auch. Er schien das nicht mal zu merken, starrte mich nur erstaunt und auch ein bisschen verletzt an. Der Busfahrer warf uns einen Blick zu, hielt an und öffnete dann die Tür. Als er uns bat, die Auseinandersetzung draußen fortzusetzen, sprang ich sofort aus dem Bus. Unsanft landete ich auf meinen Füßen und knickte prompt um. Ich fluchte leise und wollte schon weitergehen, als ich Thomas' Hand wieder an meinem Körper spürte, diesmal am Oberarm.
„Wo willst du hin?" Er spuckte die Worte förmlich aus und sah mich dabei vorwurfsvoll an. Beschämt senkte ich den Blick.
„Ich fahre nach Hause", antwortete ich endlich. Thomas blickte mich verblüfft an, runzelte die Stirn und glättete sie wieder. Er sagte nichts. Irgendwann, nach einer ganzen Weile, wurde es mir zu bunt und ich stapfte durch das nasse Gras am Wegrand die Straße hinunter. Einfach weg. Die durch den nassen Untergrund federnden Schritte hinter mir verrieten, dass Thomas mir folgte, jedoch sprach er mich nicht an. Und so liefen wir dann, hintereinander, ohne dass ich mich auch nur ein einziges Mal umdrehte. Stundenlang. Irgendwann setzte die Dämmerung ein und es wurde von Minute zu Minute dunkler. Ab und zu erhellten Scheinwerfer vorüberziehender Autos die Dunkelheit, doch meist blieb es dunkel und folglich war ich froh, bald einen Streifen von Lichtern in der Ferne zu erkennen. Ob das ein Dorf war? Egal. Ich beschleunigte meine Schritte um möglichst schnell aus der Kälte zu kommen. Hinter mir wurden auch Thomas' Schritte schneller.

Newcomer ☆Abgebrochen☆Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt