Für immer, hatte ich mir geschworen, den Daumen nur Bruchstücke eines Millimeters von dem grünen Hörer meines Handys entfernt. Ich hätte gedrückt, wäre ich nicht in eben diesem Moment von einer meiner kleinen Schwestern abgelenkt worden. Sagte ich mir zumindest. In Wirklichkeit lag der Grund in einer ganz anderen Dimension. Mit Namen hieß der Grund Thomas. Nur ihm zuliebe hatte ich doch nicht gedrückt, nur ihm zuliebe hatte ich meine Teilnahme am Projekt nicht abgesagt. Nur seinetwegen hatte ich meine Karriere - ob sie nun erfolgreich werden würde oder nicht - nicht weggeworfen. Statt also in Hexes Büro anzurufen, hatte ich eine andere Nummer gewählt, eine, die in meiner Anruferliste inzwischen ganz oben stand. Es war eine britische Festnetztelefonnummer und in meinen Kontakten war sie unter dem Namen „Tommy" eingetragen. Was übrigens auch das erste war, was ich stets zu ihm sagte, in den Nachmittagsstunden, wenn es bei ihm zuhause in London schon spät abends war. Unsere Zeit war immer dieselbe und jeden Tag aufs Neue fieberte ich auf den Moment hin, in dem das Display meines Handys aufleuchtete und seinen Namen zeigte, direkt daneben die Uhrzeit. 17:30. Oh Gott, endlich.
Heute war ich mit Anrufen dran, und wie immer wählte ich viel zu früh. Fast eine halbe Stunde starrte ich den Bildschirm an, bis ich endlich drückte. Keine Ahnung, warum ich immer den exakten Moment abpasste. Vielleicht, weil das Gefühl der Freude in meiner Brust dann umso intensiver nachwirkte. Vielleicht auch, weil es besser war, später zu telefonieren, weil dann die Zeit vor dem Schlafengehen nicht so lang war. Denn Thomas' Stimme vom anderen Ende der Welt zu hören, war wie eine Droge für mich, eine Droge, ohne die ich nicht schlafen konnte. Es war besser, sie noch im Ohr zu haben, wenn ich mich auf der Couch einrollte, sonst kamen die Tränen zu leicht, zu schnell. Verdammt, ich liebte ihn.
„Hallo, hier Thomas Sangster", meldete der Junge sich in freundlichem Tonfall. Der Junge. Mein Junge. Mein Thomas. Mein Leben.
„Hey", sagte ich schüchtern. Ich konnte das Licht des entzündeten Glühdrahts in seinen Augen fast sehen, obwohl ich ihn nur hören konnte. Das schnelle Einatmen und das leise, fast unhörbare Räuspern reichten, um zu merken, wie sehr er sich freute, mich zu hören. Wie sehr er sich jeden Tag aufs Neue freute. „Hier ist Rebecca." So überflüssig es auch war, ihm das zu sagen, es stärkte mein Selbstvertrauen. Wenn ich ihm meinen Namen nannte und die Freude in ihm noch immer nicht erlosch, dann wurde mir immer wieder klar, dass er sich über mich freute. Dass er fast hyperventilierte, nur weil ich ihn anrief. Es war leicht, mir einzubilden, dass er mich genauso liebte, wie ich ihn liebte, wenn er so reagierte.
„Ich weiß", murmelte Thomas. Im Hintergrund hörte ich Stimmen und fragte mich, ob er wohl Besuch hatte. Aber so spät noch? Immerhin war es bei ihm daheim in London schon halb elf, eigentlich nicht die Zeit, in der man parallel telefonierte und eine Party schmiss. Und das, was ich hörte, hörte sich definitiv nach Party an. Na gut, sagte ich mir, er ist Anfang zwanzig, er braucht sein Privatleben, er braucht ne Party und er braucht auch mal einen Kater. Es war schwieriger als ich dachte, mir das vorzustellen. Doch bevor sich mir die Möglichkeit bot, ihm mein Verständnis entgegenzubringen, verstummten die Stimmen. „Sorry", sagte Thomas mit seinem weichen, britischen Akzent. „Ich hab vergessen, den Fernseher auszuschalten."
Den Fernseher.
Ich gab mir einen gedanklichen High five - mit einem Stuhl. In mein Gesicht. - und nahm den Faden auf, den Thomas mir hingelegt hatte. Es fiel uns nie schwer, stundenlang zu reden, aber ich freute mich trotzdem immer, wenn ich etwas hatte, an dem ich mich und das gesamte Gespräch orientieren konnte.
„Was hast du dir denn angeschaut?", fragte ich, ein Lächeln auf den Lippen, das mit der Sonne konkurrieren könnte.
„Irgend so einen Actionfilm", antwortete Thomas und aus seinen Worten klang dasselbe Lächeln wie mein eigenes. „Die Schauspielerin von der weiblichen Protagonistin kam mir irgendwie bekannt vor", sinnierte er. Ich wusste, er wollte mich nur necken, doch trotzdem konnte ich den Schwall von Eifersucht nicht aufhalten.
„Kennst du sie persönlich?", fragte ich drängend. Thomas gestand, dass sie ihm eigentlich gar nicht bekannt vorgekommen war und dann lachten wir beide und redeten über dies und das, bis die Sonne, die mir durch eines der wenigen heilen Fenster auf den Rücken geschienen hatte, unterging und es kalt wurde im Wohnzimmer. Wir telefonierten schon seit mehr als drei Stunden. Ups. So lange schon, und doch ging uns nicht der Gesprächsstoff aus, bald redeten wir über Filme, dann über Romeo und Julia und darüber, wie dämlich sie sich verhalten hatten und schließlich gelangten wir wieder zurück zu den Filmen oder genauer zu dem Genre Liebe. Wir unterhielten uns viel über Filme und es war nicht schwer, zu erraten, warum. Wir beide waren für diese Art von Unterhaltung wie geschaffen und ich freute mich mehr darüber, als ich in Worten ausdrücken könnte. Und doch war da etwas, was ich sehr gerne in Worten ausdrücken würde, und das hatte mit Filmen herzlich wenig zu tun. Oder, doch. Mit dem Genre Liebe. Ich wollte ihn so viel fragen, so viel wissen, was unsere Beziehung betraf, doch ich fand nicht die richtigen Worte und so schob ich es auf, jeden Tag, lenkte mich mit anderen Themen ab, und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie schwierig es zwischen uns war.
Erstens: zwischen uns lagen Meilen, ein ganzer Ozean. Wir konnten uns niemals nah sein und es schmerzte, darüber nachzudenken. Ich vermisste ihn schon, wenn ich an den Moment dachte, in dem ich den roten Hörer drückte, mit kalten, tauben Fingern.
Zweitens: wir waren, wer wir waren. Er ein mittelprächtig berühmter Schauspieler und ich ein Nichts, ein Niemand. Ein Mädchen, frisch von der Schauspielschule, das davon träumte, einmal in auch nur halb so vielen Filmen zu spielen wie sein Idol.
Drittens: wir konnten nichts daran ändern, wie wir waren. Wir konnten gar nichts ändern, keine Tatsache, kein Hindernis aus dem Weg räumen. Ich brauchte mich nur einmal in dem Raum umzusehen, in dem ich hockte und wusste, dass die Verhältnisse, unter denen wir lebten, unterschiedlich waren. Zu unterschiedlich.
„Thomas", stieß ich hervor, als er gerade eine Pause in seinem nächsten Redeschwall einlegte. Ich rang nach Luft, panisch. Wie sollte ich es ihm sagen? Wie meine Gefühle gestehen, ohne dabei ins Schwärmen zu geraten? Und wie sollte ich erklären, was ich gerade in drei Punkten einigermaßen geordnet festgehalten. Distanz. Unterschiede was unsere Wesen betraf. Unterschiede was unsere Herkunft betraf. Wie...?
„Musst du auflegen?", erkundigte Thomas sich und die Traurigkeit in seiner Stimme tat mir im Herzen weh.
„Nein." Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter, doch auf halbem Weg blieb er wieder stecken und erschwerte das Atmen. Es war Angst, die mir die Luft nahm, nackte Angst. Verzweifelt krallte ich meine Finger in das Polster des Sofas und versuchte, Luft in meine Lungen zu bekommen. „Nein, ich hab noch Zeit. Wie steht's mit dir?" Ich lenkte vom Thema ab, das ließ sich nicht leugnen. Ich biss mir auf die Lippe. Es ist doch ganz einfach!, drängte etwas in mir. Frag ihn einfach!
„Es ist schon nach Mitternacht... weit nach Mitternacht. Aber theoretisch kann ich bis morgen um halb elf schlafen, deshalb wäre es für mich eigentlich kein Problem." Schon wieder dieses unsichtbare, bewegende Lächeln.
„Ich muss dich was fragen", platzte ich atemlos heraus. Scheiße, scheiße, scheiße. Wie kam ich hier nur wieder raus?
„Schieß los."
„Was ist mit uns?" Ich stellte die Frage vorsichtig, bloß nichts Falsches sagen. Ich hatte beschlossen, ihn einfach vor die drei unumstößlichen Tatsachen zu stellen. Dann würde ich ihn reden lassen und erst wieder etwas sagen, wenn sich mir die Gelegenheit dazu bot. Vielleicht würde ich heute gar nicht gestehen, sondern morgen, oder übermorgen.
„Warum fragst du das?", fragte Thomas. Mist. Das hätte er nicht fragen dürfen, denn ich hatte keine Antwort parat. Zumindest keine, die mir in den Kram passte. Fieberhaft überlegte ich hin und her. Welche Antwort wäre eine passende Überleitung zu meinen drei Tatsachen? Welche Antwort täte am meisten weh? Mit welcher Antwort konnte ich ihn zum Reden bringen, mit welcher zum Schweigen?
„Weil ich glaube, dich zu lieben, Thomas Brodie-Sangster", sagte ich schließlich unter Aufwand aller meiner Kraft. Kaum hatte ich es gesagt, wusste ich, dass es wahr war. Ich spürte, dass ich die Kraft hatte, auszusprechen, die Kraft ihm zu sagen, was ich dachte. Er würde verstehen. „Und ich will wissen, ob ich die Liebe, die ich habe, sinnvoll investiert habe. Ich will wissen, ob du meine Gefühle erwiderst und dann werde ich dir meine Gründe nennen, warum wir niemals zusammen sein könnten und danach werde ich noch mal wissen wollen, ob du meine Gefühle erwiderst." Was war das denn?, fragte ich mich und vergrub das Gesicht in meinen Händen. Das klang ja total auswendig gelernt! Wie würde Tommy reagieren? Bis jetzt reagierte er noch gar nicht, schwieg, es war so still, dass ich das Rascheln in der Leitung als viel lauter wahrnahm, als es eigentlich war. Langsam hörte ich ihn ein und ausatmen, ein aus, ein aus, bis ich taub für die Atemgeräusche war. Mein Ohr wartete auf seine Stimme, sehnte sich nach ihr, nicht nach Zeit vergeudender Stille.
„Das klingt ziemlich durchgeplant", sagte er endlich. Ein leises Lächeln war in seiner Stimme zu hören, und obwohl er leicht säuerlich klang, wusste ich, er hatte mir längst meine komische Rede verziehen. „Aber du hast es auf den Punkt gebracht. Wow. Meinen Respekt, Rebecca."
„Ja", sagte ich und begann, ungeduldig auf dem Sofa hin und her zu rutschen. Was würde er sagen? Warum ließ er sich so viel Zeit?
„Ich glaube nicht, dass ich das so hinkriege wie du. Ich bin zu schüchtern für so was. Deshalb..." Er zögerte und wieder war minutenlang nur sein Atem zu hören. Vielleicht waren es nur Sekunden, ganz bestimmt sogar, doch mir kam es vor wie eine halbe Ewigkeit. „Deshalb komme ich vorbei. Also, nur wenn du nichts dagegen hast. Ich will das nicht am Telefon machen."
„Okay", flüsterte ich und dann war es wieder still, bis Thomas, meilenweit von mir entfernt, ohne ein weiteres Wort die Verbindung unterbrach.
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Newcomer ☆Abgebrochen☆
Разное"I bloody love you." Diesen Satz habt ihr bestimmt schon mal auf einem Google-Bild gesehen und ich habe ihn mir zum Motto gemacht und mir vorgenommen, das gewünschte Buch dazu zu schreiben! Für dich, @Darkshadow_99!♥ Beccas Leben ist von...