[The Newcomer] ☆Achtes Kapitel☆

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Theoretisch könnte es einer der schönsten Momente in meinem Leben sein, hoch oben in den Lüften, schwerelos. In der Praxis sah das Ganze dann schon anders aus. Schwerelos hin oder her, in meinem Kopf dröhnte es laut und ich hatte das Gefühl, zu fallen. Die eine Hand krallte ich in das Polster des gemütlichen Erste-Klasse-Sitzes, die andere umklammerte Thomas' Hand, so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Obwohl es Thomas wehtun musste, ließ er sich nichts anmerken, sondern hielt aus. Ich dankte es ihm ab und zu mit einem Lächeln in seine Richtung, die meiste Zeit versuchte ich mich jedoch auf den Film zu konzentrieren, den Thomas eingelegt hatte, irgendein Actiondrama, ich sah gar nicht richtig hin. Musik schallte aus den Kopfhörern direkt in mein Ohr, laute Musik, Filmmusik. Wer wohl die Musik zu Skogland komponiert hätte? Bestimmt irgendein multitaskingfähiger Asiate, die konnten ja immer alles. Ob er schon engagiert war? Wenn ja, hatte er wohl schon sein Orchester zusammengestellt? Wie viele Menschen waren wohl bereits im Film eingebunden, wie viele hatten schon wie viel Zeit investiert? Wie viele mussten jetzt mit der Enttäuschung leben, dass der Film noch nicht gedreht wurde? Wie viele Personen warteten sehnlichst auf unsere Rückkehr? Unwillkürlich drückte ich Thomas' Hand noch ein wenig fester, nicht aus Angst vor dem, was mich erwarten würde diesmal, sondern vor Glück. Ihm allein hatte ich es zu verdanken, dass meine Karriere nicht futsch war, dass die vom Film auf uns warten würden. Endlos lange Gespräche hatte er geführt, unzählige Räume hatte er betreten, aus manchen kam er mit einem verärgerten, aus anderen mit einem lächelnden Gesicht zurück. Am Ende war sein Plan trotz aller Steine, die ihm in den Weg gelegt worden waren, aufgegangen. Der Dreh war verschoben worden, ein anderes Buch wurde jetzt zuerst verfilmt. Sie würden ein ganzes halbes Jahr auf uns warten. Ein ganzes halbes Jahr, das ich mit meiner Familie verbringen würde. Ein ganzes halbes Jahr ohne Thomas. Unwillkürlich musste ich schlucken. Die Musik verstummte und Stimmen verschmolzen in meinem Kopf zu einer unschönen Melodie. Ich zog mir das Headset vom Kopf und legte es beiseite. Ich wollte einfach nur noch schlafen. Weg von den Gedanken, die mir Angst machten. Weg von der Angst.
„Becca." Thomas klang gelangweilt und ich wusste nur zu gut, warum. Er hatte mir noch nicht verziehen, was ich getan hatte, was ich gerade jetzt tat. Er sah noch immer das unvernünftige, kleine Mädchen in mir. Dass ihre Karriere für ein halbes Jahr wegwarf.
„Es tut mir Leid, Tom", murmelte ich und wollte aufstehen, doch jemand hielt mich zurück. Thomas. Wer sonst. Und ich merkte, dass ich Angst hatte vor dem, was er sagen würde.
„Du musst dich nicht entschuldigen. Ich weiß, du machst dir Vorwürfe. Du glaubst, dass es egoistisch ist, was du hier tust. Und wenn ich ehrlich bin, dann muss ich zugeben, dass ich genauso dachte. Aber ich glaube, jetzt hab ich kapiert, warum du das tust. Und, mal unter uns: du hast es ganz alleine geschafft, ein Großprojekt zu platzen. Meinen Respekt." Ein Lächeln umspielte seine Lippen und ich musste dagegen ankämpfen, ihm nicht um den Hals zu fallen. Er war gar nicht böse. Er verstand, was ich tat. Er verstand mich, die schwierige Becca, die sonst nie jemand verstand. „Um mich mach dir mal keine Sorgen, Rebecca. Ich hab da so ein Angebot bekommen, für eine Serie. Mal sehen, ob ich das mache. Wir werden dieses halbe Jahr alle herumkriegen. Wir warten. Auf dich. Ich will am Set nicht auf dich verzichten müssen. Niemand will das", fügte er hastig hinzu und sah weg. Er reichte mir meine Koffer und dann verließen wir das Flugzeug. Hier, im gläsernen Gebäude des Flughafens New York, würden sich unsere Wege trennen. Ich würde einen Anschlussflug nach Augusta nehmen und Thomas würde nach London fliegen, einmal über den Teich, weiter weg ging's gar nicht. Und uns blieben nur noch Minuten, Minuten, die viel zu schnell vergingen. Bald würde er durch das Gate gehen und mich allein lassen mit meiner Angst vor der Vergangenheit. Ich brauchte nur einmal die Augen zu schließen und schon tauchten Bilder auf, die ich nicht sehen wollte. Also riss ich die Augen auf und sah Dinge, die ich nicht sehen wollte, weil das, was ich sah, nicht so schlimm war, wie das, was ich sah, wenn ich nichts sah.
Er verschwand innerhalb weniger Sekunden in den Menschenmassen. Sie zogen ihn mit wie eine heftige Strömung in einem breiten Fluss, zogen an mir vorbei und umspülten Thomas bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. Jetzt schloss ich doch die Augen, atmete durch und wappnete mich. „Du schaffst das, Rebecca." Das war das letzte, was Thomas noch zu mir gesagt hatte, bevor er gegangen war, ein Lächeln auf den Lippen. Er fuhr jetzt nach Hause. Ich tat im Prinzip dasselbe, nur dass ich nicht wusste, wo und was mein Zuhause war. Einmal noch tief durchatmen, dann kehrte ich Gate 4 den Rücken und lief auf mein eigenes zu.

Newcomer ☆Abgebrochen☆Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt