2. Marco Reus

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Seit Stunden liege ich auf der Seite und ertrage diesen unfassbaren Schmerz. "Wir sind fertig, Summer! Sieh es dir an!" Mir wird schwindelig als ich aufstehe, ich kralle mich kurz an der Liege fest und wanke dann zum großen Spiegel. Es ist perfekt geworden! Ein Meer aus Klatschmohn und weißen Lilien zieren meine rechte Körperseite, direkt auf Rippen und Taille. Stumm laufen Tränen über meine Wangen. Mein Tätowierer hat unsere Namen in das Kunstwerk miteingearbeitet. Josie, ich trage dich von nun an für immer auf der Haut. "Danke, es ist besser geworden, als ich es mir gewünscht habe!", sage ich leise. "Das freut mich, Summer. Ich weiß, wie wichtig dir das war. Ich habe gehofft, dass du zufrieden sein wirst." Mike und ich kennen uns schon ewig, er hat fast alle meine Tattoos gestochen. Dieses hier ist etwas ganz Besonderes gewesen, ich wollte unbedingt, dass er es macht. Er kannte Josie, er kannte Josie und mich. Er hat mit diesen Farben etliche wunderbare Jahre auf meiner Haut festgehalten. Ich umarme ihn und ziehe mich langsam wieder an.

Ich bin seit Tagen nicht zur Arbeit gegangen, ich empfinde es als sinnlos. Was soll ich dort? Da ich sowieso permanent in Tränen ausbreche, bleibe ich zu Hause, verschlafe den Tag und bin jede Nacht unterwegs. Ich trinke seit Josies Tod viel zu viel Alkohol, mache die Nächte durch und nehme ab und zu Drogen. Nur so ertrage ich den Schmerz, den Verlust. Nach 2 Wochen erhalte ich per Post die fristlose Kündigung. Ich lasse den Brief zu Boden fallen, ich empfinde nichts dabei.

Unsere ehemalige gemeinsame Wohnung gleicht einem Chaos. Überfall leere Flaschen, dreckige Kleidung - nur in Josies Zimmer nicht. Ich betrete es seit ihrem Tod nicht mehr, ich kann es nicht. Es ist so, als wäre sie nur zur Arbeit gegangen und kommt gleich wieder. Doch das wird nicht passieren. Sie wird nie wieder hier bei mir sein. Verzweifelt lehne ich mich mit dem Rücken an ihre Zimmertür und kippe das nächste Glas Wein hinunter. Ich weine bitterlich, wie soll ich ohne dich weitermachen, Josie? Wie?

Im Spiegel im Bad erschrecke ich kurz. Ich sehe schlecht aus, meine Haut ist grau, fahl, tiefe Augenringe, die Haare schlecht gemacht. Ich bin betrunken, so wie jede Nacht seit sie weg ist. Das schrille Klingeln an der Wohnungstür jagt mir einen Schreck ein. Ich torkle unsicher zur Tür und öffne. Vor mir stehen unsere Mütter, sie sehen mich entsetzt an. "Summer! Das muss aufhören!" Wimmernd falle ich meiner Mutter in die Arme. Sie fängt mich auf und streichelt meinen Rücken. Sie bringen mich in mein Bett, ich kann mich nicht wehren, die Welt um mich herum dreht sich wie wild.

Am nächsten Morgen werde ich von dem Duft von Kaffee geweckt. Mein Schädel platzt fast, mein Körper erträgt es von Tag zu Tag weniger, dass ich so viel trinke. Mühsam setze ich mich auf, ich bin überrascht als ich aufstehe - wo ist das ganze Zeug hin, das gestern noch auf meinem Boden verstreut lag? Ich kühle im Bad mein Gesicht mit kaltem Wasser ab und schlurfe dann in die Küche. Dort sitzen sie. Deine Mutter ist da, Josie und auch meine. Sie waren gestern wirklich hier gewesen.

Ich nehme mir Kaffee und setze mich an den Küchentisch. Meine Mutter schiebt mir ein Glas Wasser und eine Kopfschmerztablette hin, ich nehme sie dankend an. "Summer, ich weiß, Josie und du, ihr wart unzertrennlich. Ihr wart die besten Freundinnen. Aber so geht das nicht weiter. Josie hätte das nicht gewollt. Dein Leben muss weitergehen. Du sollst sie nicht vergessen, aber du bringst dich mit deinem Verhalten noch um!", erklärt Josies Mutter traurig und sieht mich direkt an. Ich lasse das Glas sinken. "Dann bin ich wenigstens wieder bei ihr", meine ich tonlos. "Schatz, wir haben den Mietvertrag gekündigt. So kann es nicht weitergehen!", erwidert sie nun und mein Herz setzt fast aus. Ich kann es nicht fassen, Josie ist doch erst seit knapp 3 Wochen tot! "Summer, ich möchte, dass du mit mir nach Dortmund kommst. Berlin, eure Wohnung, all das macht es dir noch schwerer darüber hinweg zu kommen. Du solltest versuchen neu anzufangen. Dortmund ist eine schöne Stadt", mischt sich nun meine eigene Mutter ein. Argwöhnisch blicke ich zu ihr. "Was soll ich bitte in Dortmund?", zische ich voller Groll. "Wieder leben, Summer. Josie war deine zweite Hälfte, doch du wirst sie immer bei dir tragen, in deinem Herzen. Vergiss das nie. Ich habe Angst um dich, ich kann dich nicht auch noch verlieren!", fleht mich Josies Mam an, Tränen sammeln sich in ihren Augen. Josies Mutter weint, ich war immer wie ihre zweite Tochter für sie gewesen. Auch mir rinnen große Tränen über das Gesicht. Ich will hier nicht weg. Josies Seele ist noch hier. Ich kann sie nicht zurücklassen. "Ich kann nicht", stoße ich bedrückt hervor, weiche ihrem Blick aus. "Summer, bitte denk darüber nach. Dortmund wird dir gefallen", bittet mich meine Mutter sanft. Genervt sehe ich sie an. "Was kommt als Nächstes? Erzählst du mir jetzt wieder, dass ich ja dann endlich die Spieler vom BVB kennenlernen kann, durch deinen Freund? Das ist mir so scheißegal! Josie ist tot! Das ist das Einzige, was zählt! Sie ist tot! Meine beste Freundin ist in meinen Armen gestorben und ihr verlangt von mir, dass ich alles hier aufgebe? Ich war bei ihr, als sie ihre letzten Worte gesprochen hat! Ich war da, als sie den Kampf gegen dieses Arschloch von Krebs verloren hat! Sie war doch erst 25! Ihr habt doch keine Ahnung wie sehr ich sie vermisse! Was soll ich denn ohne sie machen? Josie war wie eine Schwester für mich und jetzt ist sie tot! Sie ist tot, verdammt! Sie kommt nie wieder! Sie ist ohne mich gegangen! Ich bin allein! Was interessiert mich da diese blöde Fußballmannschaft?! Ich sage es dir, gar nicht! Niemand wird jemals Josies Platz einnehmen können! Niemals!", jaule ich verzweifelt auf und atme schwer. Ich bin aufgesprungen, werfe das Glas zu Boden, es zersplittert krachend. Mein Gesicht ist nass von den Tränen, ich bin heiser und zittere am ganzen Körper.

Die Beiden haben mir stumm zugehört. " Niemand soll ihren Platz einnehmen, Summer. Niemals. Doch so kann es einfach nicht weitergehen. Das musst du doch verstehen. Komm doch einfach mal dieses Wochenende mit nach Dortmund und schau dir alles an. Es wird dir gefallen", sagt meine Mutter ruhig. Ich weiß, sie will mir nur helfen, doch ich will hier nicht weg. Allerdings weiß ich auch, dass ich es alleine nicht schaffen werde ohne Josie zu leben. Besonders nicht in dieser Wohnung. "Okay", krächze ich heiser. Hier werde ich untergehen, ohne Josie. Es ist nur für ein Wochenende, rede ich mir ein. Nur ein Wochenende.

Nur eine Stunde später fahren wir los. Ich habe ein paar Sachen eingepackt. Es ist mir sehr schwer gefallen zu gehen, doch ich habe verstanden - Josie hätte das so nicht gewollt. Ich verschlafe die gesamte Fahrt und werde erst vor dem Haus meiner Mutter wieder wach. Ihr neuer Partner hat irgendwas mit dem BVB beruflich zu tun. Er scheint damit sehr gut zu verdienen. "Mum, ich will was von der Stadt sehen, und das Stadion oder so!", platzt es aus mir heraus. Ich weiß selbst nicht, wo dieser Wunsch plötzlich herkommt. "Jetzt sofort?" Ich nicke. "Okay, ich bringe nur schnell deine Sachen ins Haus", lächelt sie mich an. Sie scheint sich sehr darüber zu freuen. Sie verschwindet kurz, ich lehne an dem großen Wagen und starre auf den See. Josie, ich werde dich nie vergessen, ich verspreche es dir!

Meine Mutter ist zurück und wir fahren irgendwohin. Auf dem Weg erzählt sie mir alles Mögliche über die Gebäude und Straßen, die ich durch die Scheibe sehen kann. Endlich hält sie an. "Wo sind wir, Mum?" Sie schmunzelt: "Wir gehen jetzt erst einmal einen Kaffee trinken." Das klingt gut. Ich bin immer noch sehr müde. Die letzten zwei Wochen haben mir sehr zugesetzt. Wir betreten ein schnuckeliges kleines Café und setzen uns in eine Ecke. Gedankenverloren gehe ich an den Tresen und bestelle für uns beide etwas. Da taucht neben mir ein schlanker, blonder, junger Mann auf. Er trägt seine Cap tief ins Gesicht gezogen. Ich mustere ihn von der Seite und erschrecke als er mich ansieht. Er lächelt und sagt freundlich: "Hallo." "Hi", nuschle ich verlegen, dann starre ich schnell wieder den Kuchen in der Auslage an.

"Bist du von hier?", fragt er mich. Ich schüttle nur den Kopf, sehe ihn nicht an. "Ich hab dich hier noch nie gesehen." "Ich war auch noch nie hier", gebe ich leise zu. Nun sehe ich ihn doch an. Er hat seine Cap ein wenig hochgeschoben, sodass ich sein Gesicht besser sehen kann. Ich kenne ihn, ich habe ihn schon so oft im Fernsehen gesehen! In diesem Augenblick bin ich froh den Rat meiner Mutter angenommen zu haben und vor unserer Fahrt nach Dortmund duschen gewesen bin, mir die Haare gemacht, mich geschminkt und mir etwas Vernünftiges angezogen habe. "Ich bin Marco." Ich weiß, denke ich. Marco Reus um genau zu sein. "Summer", stelle ich mich vor und schaue ihn unsicher an. "Summer? Wow, das ist ein schöner Name!" Er sieht mich an und grinst. "Ich muss jetzt leider los, vielleicht sehe ich dich hier mal wieder? Hoffentlich!" fügt er hinzu, er nimmt seinen Kaffeebecher und geht. Kurz bevor er den Ausgang erreicht hat, dreht er sich noch einmal um und lächelt mich an. Ich lächle zurück, das erste Mal seit fast drei Wochen, seit Josies Tod.

Klatschmohn & Lilien [Marco Reus] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt