Meine Lieben, dieses Kapitel bedeutet mir viel. Ich hoffe, mir ist es gelungen, die Stimmung (wenigstens ansatzweise) in Worte zu verpacken...
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Ich bin an diesem Abend so kaputt und müde, dass ich seit drei Wochen das erste Mal nachts schlafen kann. Ich denke vorm Einschlafen an Josie, sie fehlt mir so entsetzlich.
Meine Mutter nimmt mich am nächsten Tag mit zum Einkaufen und beschäftigt mich sonst irgendwie. Es ist ganz gut, ich bin abgelenkt. Abends eröffnet sie mir geknickt, dass sie für zwei Tage wegfahren wird. Ich bin ein wenig enttäuscht, aber sie kann ja auch nicht rund um die Uhr auf mich aufpassen.
Marco ruft tatsächlich gegen 22Uhr an. Da ich keine Lust auf Party habe, sage ich ihm, er könne vorbeikommen, wenn er aus dem Club raus ist - ich kann doch bestimmt eh wieder nicht schlafen. Das gestern war sicher nur eine Ausnahme. Gelangweilt schlage ich die Zeit tot und sehe mir irgendwann Fotos von Josie und mir an. Ich hatte sie eingepackt bevor ich nach Dortmund gefahren bin.
Josie war so wunderschön gewesen, lange blonde Haare, funkeld blaue Augen, Sommersprossen. Jedes Mal, wenn ich ihr in die Augen gesehen habe, war es als würde ich in den Ozean abtauchen. Wir waren über 20 Jahre die besten Freundinnen gewesen, nie hatte ich mich an diesen Anblick gewöhnen können.
Als Josie vor 10 Monaten zum Arzt ging, dachten wir uns beide nichts dabei. Sie war seit Monaten schlapp gewesen, antriebslos und häufiger krank. Wir vermuteten einen Eisenmangel oder Erschöpfung, da sie in ihrem Job immer am Limit arbeiten musste. Die Ärzte machten viele Tests, doch auch das beunruhigte uns noch nicht. Als sie eine Probe vom Knochenmark nahmen, begann ich mir Sorgen zu machen. Doch Josie beruhigte mich. Die Ärzte wollten alles abklären, meinte sie und wirkte dabei sehr sicher.
Zwei Wochen später ging sie zur Auswertung der Untersuchungen. Bereits an dem Klang des Krachens wie sie die Tür ins Schloss warf, merkte ich, dass etwas nicht in Ordnung sein konnte. Josie kam in mein Zimmer und ich sah , dass sie geweint hatte. "Josie, was ist denn los? Was hat der Arzt gesagt?", fragte ich sofort und war mit einem Schlag unfassbar unruhig. Sie stand in meinem Türrahmen und sah zu Boden. "Darling, haben wir noch was zu Trinken da?" "Josie, es ist 14 Uhr. Ist das nicht ein bisschen zu früh?", versuchte ich die Stimmung ein wenig aufzulockern. Doch sie sah mich nicht an, drehte sich wie in Zeitlupe um. Wenige Minuten später hörte ich Gläser klirren, Josie kam mit zwei Gläsern und einer Flasche Schnaps wieder. Bedächtig setzte sie sich auf den Boden, so wie wir es oft machten. Wir saßen zusammen in meinem Zimmer, erzählten uns alles.
In mir keimte ein ungutes Gefühl auf. Josie war viel zu still. Irgendetwas Ernstes musste passiert sein. Ich kannte sie so lang, ich spürte, dass etwas Schlimmes passiert war. Wir saßen uns gegenüber, Josie goss uns Schnaps ein und reichte mir eins der Gläser.
"Josie, was hast du denn? Was ist passiert? So sag doch endlich mal was!" Die Unruhe nahm von meinem ganzen Körper Besitz ein, ungeduldig wippte ich mit dem Fuß.
"Summer, ich bin krank", sagte sie leise. Bestürzt sah ich sie an. "Was hat der Arzt gesagt? Was hast du denn? Es ist doch nichts Schlimmes oder?", wollte ich sofort wissen und mein Herz begann zu rasen. Josie schluckte schwer, ihre Augen füllten sich mit Tränen. "Ich habe Leukämie." "Was? Nein! Josie! Oh mein Gott, nein!", stieß ich krächzend hervor, mit vor Schreck geweiteten Augen und einem sich überschlagenden Herzen, welches in dieser Sekunde allerdingst stehen zu bleiben schien. Das Glas in meiner Hand fiel zu Boden, der Schnaps lief über den Teppich. Ich umarmte sie fest und begann zu weinen. "Wann geht deine Chemo los? Ich werde mich testen lassen! Alles wird wieder gut!" Josie hatte ihre Arme um mich geschlungen und weinte ebenfalls. Schluchzend sagte sie unter Tränen: "Es gibt keine Chemo, es gibt keine Therapie für mich! Es ist eine extrem seltene Form der Leukämie. Die Ärzte geben mir noch sechs Monate! Nur eine passende Stammzellspende würde mir helfen! Summer, ich werde sterben!" Ihre Worte drangen an mein Ohr, doch ich verstand nicht ein einziges davon. "Darling, ich werde sterben", wiederholte sie und in mir starb bereits in diesem Augenblick etwas. Ein Teil meines Herzens, meiner Seele schien mit ihren Worten bereits zu verrecken. Sie schuchzte in meinen Armen, ich konnte nicht denken. Josie wird sterben? "Es muss doch eine Möglichkeit geben? Das kann doch nicht sein!", flehte ich und hoffte. Doch sie drückte sich nur noch enger an mich. "Nein. Es gibt keine. Niemand, mit dieser Diagnose hat ohne passenden Spender länger als ein Jahr geschafft. Trotz aller Versuche. Ich will meine letzte Zeit nicht im Krankenhaus vertrödeln! Ich will meine letzten Momente genießen. Die Therapien ändern nichts daran, dass ich sterben werde", schluchzte sie leise in meinen Armen und mir lief in kalter Schauer über den Rücken. Mir einem lauten Splittern zerbrach mein Herz nun wirklich in tausend Teile. Ich konnte es hören. Meine Josie, meine zweite Hälfte ist sterbenskrank. Sie wird es vielleicht nicht überleben. Es gab nichts Schrecklicheres für mich. Ich konnte es nicht fassen, ich wollte es nicht akzeptieren! "Aber Josie! Es gibt immer wieder Wunder! Gib doch nicht einfach auf!", fordere ich sie auf, auch wenn ich jetzt schon wusste, es hatte keinen Zweck. Mit feuchten Augen sah sie mich an. "Darling, ich bin ein Wunder. Mit meinen Blutwerten und den anderen Ergebnissen hätte ich schon tot sein müssen. Doch ich habe gelebt. Ich werde einen Spender suchen, aber meine Chancen stehen schlecht", erwiderte sie tapfer. Selbst jetzt, in diesem Moment war sie noch stark. Ich strich ihr über die Wange. "Wir finden einen Stammzellspender für dich! Du wirst nicht sterben!", sagte ich fest und wollte daran glauben. "Summer, ich habe eine Bitte." "Alles, was du willst!", meinte ich ohne darüber nachzudenken. "Ich will die Zeit, die mir noch bleibt, nutzen. Lass uns leben, lass uns das Leben genießen! Bitte! Versprich mir, dass du mich nicht wie eine Todkranke behandeln wirst! Sei meine Freundin, sei bei mir, aber behandle mich nicht so, als würde ich jeden Moment tot umfallen! Versprich mir, dass wir die letzten Monate zu den Besten meines Lebens machen werden! Zu der geilsten Zeit meines ganzen Lebens! Bitte!" Ich hatte ihr schweigend zugehört. Ich kämpfte mit mir. Wenn ich ihr das versprach, gestand ich mir ein, dass sie sterben wird. Doch ich konnte ihr diesen Wunsch nicht abschlagen, ich würde ihr jeden noch so absurden Wunsch erfüllen. "Du wirst nicht sterben. Aber wir machen die Zeit zu der Besten unseres Lebens! Du wirst leben!", entgegnete ich, doch die Tränen in meinen Augen verrieten meine Angst. "Lass uns gemeinsam leben, solange wir es noch können, Summer", bittet sie mich traurig. Schweigend saßen wir Arm in Arm auf dem Boden, mir tropften immer wieder große Tränen vom Gesicht.
Josie goss erneut Schnaps in mein Glas und schob es mir hin. Wir sahen uns an und tranken. Der Schnaps brannte in meiner Kehle, doch er half. Er half nicht sofort verrückt zu werden bei dem Gedanken daran, dass meine beste Freundin sterben könnte. Sterben wird.
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Klatschmohn & Lilien [Marco Reus]
Short StoryKlatschmohn und Lilien, das waren wir. Josie und Summer. Beste Freundinnen fürs Leben, den Tod und die Ewigkeit. Dich zu verlieren, bringt mein Leben zum Einsturz. Ich ertrage diese Welt nicht mehr und versuche mich mich mit Alkohol und...