Josie. Du bist erneut gestorben heute Nacht. In meinem Traum. Mit jedem Mal wird es schlimmer. Ich öffne die Augen und bin verwirrt.
Ich habe dunkelblauen Stoff vor der Nase, mein Kopf liegt gar nicht auf meinem Kissen, jemand hält mich im Arm. Marco?
Er schläft noch und sieht friedlich dabei aus. Über sein Schnarchen muss ich kichern. Wie konnte ich bei dem Krach schlafen? Er brummt und zieht den Arm noch enger um mich.
Ich beruhige mich durch das gleichmäßige Schlagen seines Herzens. Es ist mehr als schräg, dass er hier in meinem Bett liegt. Aber im Moment genieße ich seine Wärme und die Sicherheit, die mir seine Umarmung spendet. Ich döse noch einmal ein und habe meine Arme eng um ihn geschlungen. Wir kennen uns nicht. Das ist mir so herzlich egal. Er ist hier.Stunden später werde ich von einem fremden Klingelton geweckt.
"Ja? Nee, ich bin nicht da... Was? Nein! Ist doch egal!... Nein, ich kann jetzt nicht... Jaja. Schon klar... Keine Ahnung...Jo, bis dann." Ich habe ihm mit geschlossenen Augen zugehört. Wenn er spricht bebt sein Brustkorb, das ist ein seltsames Gefühl. Er seufzt und streicht mir sanft über den Rücken. Dann versucht er mich langsam von sich herunter zu schieben. Ich sehe ihn an. "Hey, du bist ja wach", meint er ein wenig verlegen, lächelt mich aber dabei an. "Sorry Summer, aber ich muss dringend mal wohin", er klärt er nun, grinst schief und ich rutsche von ihm herunter.Mit angezogenen Knien hocke ich in meinem Bett und starre das Bild an der Wand an.
Meine Mutter hatte es in Auftrag gegeben, nachdem sie von Josies Tod erfahren hatte. Deshalb hängt es hier. In dem Zimmer, das sie vom ersten Tag an für mich vorbereitet hatte. Meine Gedanken kreisen um Josie. Um den Moment als sie starb.
Marco legt sich wieder ins Bett und gähnt. "Geht's dir besser?", fragt er vorsichtig. Die Erinnerungen an gestern kehren zurück.
Ach du scheiße. Ich hab mich volllaufen lassen und er hat mich kotzen sehen? Och nein, was ist das denn für ein Kennenlernen? Ich kann ihn nicht ansehen, es ist mir so peinlich.
"Du kannst gehen. Mir gehts gut. Danke für gestern", versuche ich mich aus dieser unangenehmen Situation zu retten. "Schmeißt du mich jetzt raus?" Er klingt irritiert. "Nee, aber du musst nicht hierbleiben. Das mein ich nur", wiegle ich ab. "Wollen wir was frühstücken gehen?" Wieso nimmt er nicht sein Zeug und verschwindet? Ich würde das tun an seiner Stelle. Er muss doch denken, dass ich vollkommen gestört bin.
"Summer? Frühstück?", wiederholt er seine Frage in Kurzform. "Hmmm ja. Aber ich geh jetzt nicht vor die Tür. Sorry." Ich habe wirklich keine Lust unter Menschen zu gehen. Ich fühle mich furchtbar. "Kein Problem. Können wir ja auch hier." Er telefoniert kurz und lehnt sich dann in mein Kissen. "Frühstück ist in zwanzig Minuten hier", dabei grinst er breit. "Wie jetzt?", frage ich blöd. "Siehst du dann schon", lacht er mich an.Ich robbe zum Kopfteil des Bettes und lehne mich dagegen. "Wieso bist du noch hier?" Diese Frage muss ich einfach stellen. "Wieso nicht?", erwidert er gelassen. "Naja, ich will eigentlich gar nicht wissen, was du jetzt von mir denkst. Ich hab ja sicher einen tollen Eindruck hinterlassen."
Mir ist es so peinlich, aber seine Antwort interessiert mich sehr. "Dir gings nicht gut. Dafür gibts sicher nen guten Grund. Du wirkst jetzt nicht so wie der Langeweile-Komatrinker", meint er nur und sieht mir dann in die Augen. Dabei schlägt mein Herz plötzlich schneller. Aha. Etwas ernüchternd ist seine Antwort dennoch. "Ich hab mir Sorgen um dich gemacht. Dir gings echt beschissen gestern Nacht. War nicht schön mitanzusehen", fügt er hinzu und ich möchte mir sofort die Decke über den Kopf ziehen. "Oh Gott, mir ist das echt peinlich! Ich kann dir das nicht wirklich erklären. Es ist kompliziert." Er sieht mich wieder direkt an. "Ich glaube, das ist es nicht." Er scheint direkt in meine Seele zu blicken. "Deine Freundin ist tot. Josie heißt sie, richtig? Du leidest sehr darunter. Ich weiß nicht, was daran kompliziert sein soll", spricht er ganz ruhig weiter.
Ich starre ihn an. "W-woher weißt du das?", stottere ich mit rauer Stimme. "Du hast gestern geweint und gesagt, du kannst nicht schlafen, weil du sie immer wieder sterben siehst im Traum. Ich glaube, du hattest diesen Traum danach. Du hast sogar im Schlaf geweint", erklärt er mir.
Ich kann darauf nichts antworten. Das habe ich gesagt? Das weiß niemand - außer ihm jetzt. Er muss mich für sehr schwach halten.
"Was ist passiert?" Diese Frage muss er wahrscheinlich einfach stellen. Meine Augen füllen sich mit Tränen. "Ich kann nicht", stammle ich nur. "Schon okay. Du musst mir nichts erzählen." "Danke, dass du hier warst", überwinde ich mich endlich. Er lächelt, berührt für den Bruchteil einer Sekunde meine Hand. "Kein Problem." Kurz darauf klingelt es und unser Frühstück wird 'geliefert'. So was hab ich auch noch nicht erlebt. Aber es ist köstlich, danach verkrieche ich mich zurück in mein Bett. Marco legt sich neben mich.Im Fernsehen läuft sinnloses Zeug, wir liegen einfach nur nebeneinander. Irgendwann legt er seinen Arm um meine Schultern, ich lehne mich mit meinem Kopf an seine Brust. "Das alles ist seltsam", nuschle ich in sein Shirt. "Vielleicht", sagt Marco. Sein Brustkorb bebt dabei wieder leicht.
Ich hebe meinen Kopf und sehe ihn an. "Vielleicht?" Seine Augen leuchten kurz auf, dann rutscht er ein Stück zurück und betrachtet mich schweigend.
Bevor ich reagieren kann, zieht er mich eng an sich und sein Gesicht ist so nah, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüren kann. "Vielleicht", murmelt er wieder, schließt die Augen und küsst mich dann.
Ich lasse mich in diesen Kuss hineinfallen, lege meine Hände auf seine Wangen und kann nicht glauben, dass das gerade passiert.
Marcos Lippen sind weich, er ist unglaublich zärtlich, er küsst mich so wie es noch kein Mann zuvor getan hat. Mein Herz schlägt schnell, in diesem Augenblick ist es erfüllt von Wärme, von Zärtlichkeit, nicht von Schmerz.
Marco lässt mich nicht los, er küsst mich gefühlvoller als ich es mir jemals hätte vorstellen können. "Summer, ich will dich wiedersehen", meint er leise. Ich kann nicht sprechen, ich muss mich sammeln. Marco wartet meine Antwort nicht ab und unsere Lippen berühren sich erneut.Meine zerbrochen Welt steht still, sie scheint sich beinahe rückwärts zu bewegen. Marco befreit mich für wenige Minuten von meinem Leid, von meinem Schmerz, meiner Verzweiflung. Meine Seele fühlt sich in diesem Moment nicht mehr an wie ein schwarzer, kalter Schatten. Für diesen Augenblick bin ich wieder ich selbst.
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Klatschmohn & Lilien [Marco Reus]
Short StoryKlatschmohn und Lilien, das waren wir. Josie und Summer. Beste Freundinnen fürs Leben, den Tod und die Ewigkeit. Dich zu verlieren, bringt mein Leben zum Einsturz. Ich ertrage diese Welt nicht mehr und versuche mich mich mit Alkohol und...