9. Weg. Einfach nur weg.

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Mit einem Mal packt mich die Wut. Rasende Wut! Ich renne zu meinem Schrank, reiße einige Kleidungsstücke heraus und stopfe sie in meine Tasche. Ich muss hier weg! Auch das Bild habe ich eingepackt.
Ich stürze zur Haustür, wo meine Mutter mich abfängt. "Summer? Wo willst denn hin?" Sie hält meinen Arm fest und versperrt mir den Weg nach draußen. "Geh mir aus dem Weg! Ich muss hier raus! Ich werde noch verrückt!", kreische ich haltlos, will mich an ihr vorbeiquetschen. "Summer, beruhige dich bitte! Lass uns doch endlich mal in Ruhe reden!", redet sie weiter auf mich ein. Atemlos weiche ich zurück. "Nein!", fauche ich böse. Mein Gesicht ist nass von den Tränen, meine Stimme klingt seltsam verzerrt. Sie drängt mich zurück ins Wohnzimmer. "Was willst du von mir, Mam? Ich will hier raus!", setze ich hinzu und ringe nach Luft. Mein Herz poltert beschwerlich in meiner Brust und kämpft einen Kampf, den es nicht gewinnen kann. "Summer, du brauchst Hilfe!", erwidert meine Mutter aufgebracht und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. "Achja? Du hast doch keine Ahnung! Jetzt plötzlich willst du reden?", zische ich angewidert und werfe ihr einen vernichtenden Blick zu. Ihre Art macht mich so sauer. Auf einmal will sie für mich da sein?!

In einer Kurzschlussreaktion mache ich Kehrt und am Flügel Halt, verharre für ein paar Sekunden, starre auf die vielen gerahmten Fotos, die dort aufgereiht sind. Familienbilder, Schnappschüsse von Josie und mir - meine Vergangenheit.
Ich ertrage mein Lächeln auf diesen Abzügen nicht, es macht mich wahnsinnig. Voller Zorn packe ich das erste Bild und schleudere es mit voller Wucht gegen die Wand. Krachend zerspringen der Holzrahmen und das Glas.
"Summer!", kreischt meine Mutter hinter mir. "Hör sofort auf damit!" Ich höre gar nicht hin und donnere bereits das zweite Foto gegen die Wand.
Es war eins vom letzten Jahr, Josie und ich glücklich in Berlin am Hackeschen Markt. Meine Mutter versucht mir das nächste Bild aus der Hand zu reißen. "Summer, bist du verrückt geworden? Beruhige dich!", ruft sie verzweifelt.

Mein Atem geht schnell, ich kann sie kaum verstehen, weil mein Puls so rast und das Blut in meinen Ohren rauscht. Ich lasse nicht los und schmettere das Bild an die Wand. Meine Mutter schlägt wieder die Hände über den Kopf zusammen. "Summer, mein Gott, Kind! Was ist bloß los mit dir?!", weint sie leise vor sich hin. Sie sieht, dass ich mich nicht aufhalten lassen werde.
Mit dem vierten Bild in der Hand drehe ich mich zu ihr. Meine Atmung ist flach, ich fixiere sie zornig und flüstere dann gepresst: "Das hier, das hier ist nichts mehr Wert! Mein ganzes verschissenes Leben ist weg und du präsentierst das so als wäre nichts gewesen! Das ist so widerlich! Das sind Erinnerungen, die mir so weh tun! Dieses Leben gibt es nicht mehr! Diese Summer gibt es nicht mehr! Kapier das endlich! So glücklich wie ich es früher war, werde ich nie wieder sein! Ich will das nicht mehr sehen müssen!"
Gekränkt schmeiße ich das Foto zu Boden und trete blind vor Wut darauf. "Das kannst du nicht Ernst meinen!", erwidert meine Mutter schockiert.
Ich werfe ihr einen verachtenden Blick zu und schreie sie dann heiser an: " Doch verdammt! Das ist mein Ernst! Ich will diese ganze Scheiße nicht mehr! Ich bin nicht bekloppt! Tut nicht alle so als hätte ich ne Macke! Josie ist tot und ihr macht alle einfach so weiter! Ich brauch keinen Psychologen! Ich brauche meine beste Freundin! Wieso versteht ihr das denn nicht?"

Erneut rollen mir dicke Tränen über die Wangen, mein Gesicht glüht und ich fühle mich, als würde ich gleich platzen vor Emotionen. "Aber wir verstehen das doch!", versucht sie mich zu beruhigen.
"Nichts versteht ihr!" Ich hole mit dem Arm aus und räume den Flügel komplett ab. Alle Fotos fallen klirrend und knirschend auf den Boden in die Scherben.
Meine Mutter presst die Hand vor den Mund und murmelt: "Summer, bitte..."
"Nichts versteht ihr!", brülle ich ihr noch einmal entgegen und merke, dass 2 Bilder noch stehen.
Eins von uns aus Kindertagen, ein zweites vom letzten Jahr. Das, welches auch auch in meinem Zimmer auf Leinwand gedruckt mich jede Nacht wachhält.
Bevor ich sie vom Flügel nehmen kann, springt meine Mutter dazwischen und reißt sie an sich. "Nein! Summer, nein! Jetzt ist Schluss! Du wirst es bereuen, also hör endlich auf! Ich weiß, du trauerst, aber bitte beruhige dich endlich!" "Gib her!", jaule ich vollkommen von Sinnen. "Nein, Summer!" Abwehrend streckt sie einen Arm aus.
"Gib her!",wiederhole ich grimmig, doch sie umklammert die Bilder fest und ich stehe unschlüssig vor ihr.

Klatschmohn & Lilien [Marco Reus] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt