10. Sie ist hier.

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Meine Lieben,
lang ist es her, dass es hier ein neues Kapitel gab.
Ich hoffe, ihr freut euch trotzdem, auch wenn ihr so lange warten musstet
Viel Spaß beim Lesen!❤

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Wir fahren fast die gesamte Strecke ohne weitere größere Pausen. Ich muss irgendwann eingeschlafen sein, denn Marco weckt mich vorsichtig, indem er mir leise ins Ohr raunt:"Summer, wir sind da."
Ich öffne die Augen und sofort strömt die salzige Seeluft in meine Lungen. Marco hat die Beifahrertür geöffnet und steht neben mir. Der Wagen steht auf einem Parkplatz, hinter den Dünen liegt das Meer.
Mehrmals muss ich blinzeln, um zu verstehen, dass das kein Traum ist. Ich bin hier! Hier, wo Josie und ich so viel gemeinsame Zeit verbracht haben.
Ich steige aus, quetsche mich an ihm vorbei und jogge über die Dünen hinunter zur See. Die Sonne scheint, es ist fast windstill, dennoch dringt das Rauschen der Ostsee an mein Ohr und ich atme tief ein. Die Sonnenstrahlen glitzern auf den kleinen Wellen, ich muss mich zusammennehmen, um nicht sofort in Tränen auszubrechen. Die Erinnerungen an meine beste Freundin überrennen mich regelrecht.
Ich war hier mit ihr. So viele Male.

Stundenlang hatten wir am Strand gesessen, den Möwen zugesehen, den Wellen zugehört.
Mit Josie an meiner Seite brauchte ich nicht viel. Ich war vollständig und jeder noch so seltsame Moment wurde zum Guten gewendet, wenn ich ihn mit ihr gemeinsam erlebte. Josie.
Bist du hier? Unsicher schaue ich den Strand entlang. Ein paar Touristen sind unterwegs, Kinder bauen Sandburgen, eine Gruppe Jugendlicher blödelt im Wasser herum.
Ich weiß, sie wird nicht plötzlich neben mir stehen, mir auf die Schulter tippen und fragen: "Wo warst du denn? Ich warte schon so lange auf dich!" Das weiß ich. Dennoch wäre es so unfassbar schön. Doch am Ende würde ich aufwachen und feststellen, es war ein Traum. Josie ist immer noch tot.

Ich spüre die Energie eines anderen, ganz nah bei mir. Ich drehe mich um und blicke in Marcos grünbraune Augen. Er hat seine Cap abgesetzt und fährt sich verlegen durch die Haare. "Hey", murmelt er und ich kann noch immer nicht glauben, dass er das wirklich getan hat. Mit mir hierher gefahren ist. Irgendwie ist das verrückt.
"Hey", erwidere ich, wende mich dann wieder dem Wasser zu. Ich setze mich in den warmen Sand, ziehe Schuhe und Socken aus und genieße das kribbelige Gefühl an meinen nackten Füßen. Marco lässt sich neben mir nieder.
Für einen Moment ist es fast wie früher. Mit Josie.
Das lässt mein Herz langsamer schlagen, so als wäre es müde von all der Trauer, von all den Tränen.
Marcos und mein Unterarm berühren sich kurz. Ich ziehe meinen Arm erschrocken zurück, ein kleiner Stromschlag war durch mich hindurchgefahren. "Sorry", sagt Marco. "Nix passiert", meine ich verlegen und beobachte anschließend wieder eine Möwe, die immerwährend ihre Kreise über dem Wasser zieht, um dann unerwartet in die Tiefe zu schießen und einen Fisch zu fangen.

Der Wind umspielt mein Gesicht, wie ein sanfter Kuss von Freiheit.
Ich schließe die Augen und dann spüre ich sie endlich wieder. Josie. Sie ist hier bei mir.
Sie ist noch an meiner Seite und hat mich nicht verlassen.
Lächelnd sinke ich nach hinten und verschränke die Arme hinter dem Kopf. Das zarte Hellblau des klaren Himmels ist viel zu schön, um wahr zu sein. Ich verliere mich in dieser Unendlichkeit und vergesse die Zeit. Meine Gedanken sind bei Josie.
Sie war hier so glücklich, hier auf dieser Insel. Ewigkeiten konnte sie durch das Wasser waten und nach Muscheln suchen. Die Schönsten davon behielten wir und drapierten sie meist in unserem Bad in Berlin, ganz typisch Tourist eben.
Doch es war egal, ob die Sonne schien, es stürmte - wir hielten es nie lange in unserer winzigen Ferienwohnung aus. Wir mussten raus, an die frische Luft und leben.

Einmal waren wir hierher gefahren, als sich mein damaliger Freund als Betrüger herausgestellt hatte, als einer, der gleich mehrere Freundinnen gleichzeitig hatte. Ich war so enttäuscht gewesen und traurig. Wir kamen am Abend an, das Wetter zeigte sich von seiner rauen Seite.
Josie überzeugte mich dennoch noch hinauszugehen an den Strand.
Der Regen peitschte uns ins Gesicht, der heulende Wind war ohrenbetäubend laut, als wollte uns die Insel sagen - geht, geht zurück!
Doch wir marschierten tapfer an den Strand und sogen diesen Moment in uns auf. Große, tosende Wellen mit übermächtig erscheinenden Schaumkronen, die vom Sturm zerpflückt wurden. Die kalte Nässe, die uns auf die Haut kroch. Der unbeugsame Wind, der an unseren Kleidern riss. Es war beeindruckend.
"Schrei!", hatte Josie gegen den Wind gerufen. "Schrei so laut du kannst! Lass den Sturm deine Wut hinwegfegen! Los!" Ich starrte sie an, wie sie die Arme ausbreitete, dabei durch den heftigen Sturm fast von den Füßen gerissen wurde und schrie. Ihr Schrei verlor sich im Brausen um uns herum.
Dann sah sie mich an und nickte mir aufmunternd zu. Ich tat es ihr gleich, streckte die Arme aus, kämpfte kurz gegen das Unwetter, um nicht zu stürzen und brüllte so laut ich konnte.
So sehr, dass meine Lunge schmerzte. Eine unerahnte Leichtigkeit durchfloss mich danach. Auch mein Schrei war sofort vom wilden Getöse um uns verschluckt worden. Doch es hatte geholfen.

Ein Schauer überkommt mich, ich muss die Augen geschlossen haben, während ich daran gedacht habe. Marco hat sich über mich gebeugt und sieht mich fragend an. "Alles in Ordnung?"
Eine kleine Träne rinnt meine Schläfe hinab in mein Haar. Ich setze mich auf und sehe ihn verwirrt an. "Ja, ich denke schon." Vorsichtig wischt er eine weitere Träne von meiner Wange, die der Schwerkraft folgen wollte. Sein Daumen gleitet langsam über meine Wange und wir schauen uns in die Augen.
"Hast du an Josie gedacht?", fragt er leise. Ich nicke und sehe beschämt zur Seite. "Ist sie hier?", will er wissen.
Lächelnd sehe ich zu ihm herüber und lehne mich an seine Schulter. Eine angenehme Wärme breitet sich in meinem Körper aus. "Ja", antworte ich ihm gedankenverloren und schaue wieder aufs Wasser.
Ja, sie ist hier. Josie ist hier.

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Es ist kurz, aber es ist eine Erinnerung...
Marcos zurückhaltende Art ist niedlich, oder?

Hoffe, das Kapitel hat euch gefallen?!

Knutscha,
Eure Floraly

Klatschmohn & Lilien [Marco Reus] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt