Eins Punkt Drei

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Nach der vierten Stunde klingelt es zur Mittagspause. Ich schnappe mir meine Sachen und laufe als erste aus dem Erdkunderaum. Herr Salius ruft den heraus strömenden Schülern noch die Hausaufgaben hinterher, die ich mir schon längst aufgeschrieben habe. Die meisten werden Ihre blöde Aufgabe eh nicht machen, also bemühen sie sich nicht.

Ich gehe zielstrebig auf die abgelegenste Stelle vom Schulhof zu. Es ist eine Bank hinter der Turnhalle, die ganz am Rand vom Schulgelände steht. Dort wo die Bäume vom Park schon über den Zaun hängen.

Ich breite mich auf der Bank aus und sehe dem Getümmel auf dem Hof zu. Normalerweise würde ich jetzt mit Anna auf der zentralsten Bank sitzen und mit jede Menge Leute reden. Na ja, sie würde reden und ich würde nur dasitzen und lächeln.

Die Leute, die sich „beliebt" schimpfen, versammeln sich auchheute dort und lachen so laut, dass man sie bis zu mir hören kann.Für mich ist das nichts. Ich bin lieber für mich.

Die Kopfhörer, die um meinen Hals hängen, verbinde ich mit meinem Handy und setze sie auf. Dann hole ich meinen Block heraus und fange an zu zeichnen. Ich zeichne alles, was sich zeichnen lässt. Die anderen Außenseiter, die sich auf ihre Plätze zurückziehen. Die Natur, die sich jeden Tag zu ändern scheint. Und Anna.

Anna lässt sich gern zeichnen. Ob allein oder mit ihrem Freund, das ist ihr egal. Sie hat mir einmal erzählt, dass sie sich gern darstellen lässt, dass sie interessiert daran ist, wie man ihr Gesicht und ihren Körper zeichnet. Daran könnte man, sagt sie, die Gedanken des Zeichners erkennen.

So ein Quatsch!Ich zeichne sie immer gleich und sie meint, ich verändere sie immer wieder. Einbildung ist auch 'ne Bildung.

Heute zeichne ich die Lilie, die ich von meiner Bank aus im Park sehen kann. Ich schwinge den Bleistift übers Blatt und vergesse das Geschehen um mich herum. Konzentriere mich nur noch auf die Blüte der Lilie.

Gefühlte Stunden später tippt mir jemand auf die Schulter. Ich zucke so heftig zusammen, dass meine Kopfhörer runterfallen. Ich drehe mich um und vor mir steht ein großer Kapuzenpullover.

„Hey,du kannst echt gut zeichnen." Und du brauchst dringend Hilfe beim Klamotten kaufen.

„Danke.." ich wende den Blick ab und hebe meine Kopfhörer auf.Ich lege sie auf meine Schultern und rutsche ein bisschen zur Seite.Sofort setzt sich Kapuzenpulli neben mich.

„Ist das.. eine Blume?" Na wonach sieht's denn aus?

„Eine Lilie." sage ich leise und versuche mich wieder auf die Zeichnung zu konzentrieren. Kapuzenpulli sieht sich auf dem Hof um und sieht dann verdattert auf meine Zeichnung. Ich zeige geistesabwesend auf mein kleines Modell auf der anderen Seite des Zauns.

„Dort drüben, bevor du noch sagst, ich hätte sie mir ausgedacht."

Er muss grinsen und sieht mir weiter beim zeichnen zu. „Hat Picasso auch einen Namen?"

„Pablo." sage ich trocken.

„Na gut, Pablo, wie du willst." ich merke erst jetzt, dass ich meine Gedanken laut ausgesprochen habe. Heftig schlucke ich runter und versuche wieder die Zeichnung vor meinen Augen zu sehen.

„Wieso sitzt du hier allein?" fragt er und holt eine Zigarette raus.

„Aus dem selben Grund, warum du dir hier 'ne Kippe anzünden kannst." ich sehe mich um und dann zu ihm.

Er grinst zurück und nickt langsam. „Da hast du wohl recht. Hier sieht nie jemand hin."

Ich widme mich wieder der Zeichnung, nur um festzustellen, dass sie fertig ist. Ich will schon den Block wieder zuschlagen, doch da kommt er mir zuvor.

„Warte mal, lass mich mal sehen."

„Nur zu, aber ich glaube nicht, dass das großen künstlerischen Wert hat." ich beiße mir auf die Zunge. Schon wieder ist mein Mund schneller gewesen, als mein Gehirn.

„Na das wollen wir doch mal sehen." nuschelt er durch seine Zigarette und nimmt den Block entgegen. Nach ein paar Minuten gibt er ihn mir wieder zurück.

„Das ist echt gut!"

„Ja klar."

„Nein wirklich! Ich mein's ernst! Das sieht fast besser aus als das Original."

„Schleimer." ich verdrehe die Augen.

„Ich sag' nur wie's is'." er setzt sich gemütlich hin und zieht an der Kippe. Ich sehe ungläubig zu ihn hinüber.

„Hat denn der gnädige Herr auch einen Namen?" Was ist denn das heute. Ich kann meine Klappe einfach nicht halten.

„Du kannst mich Robin Hood nennen." er zuckt mit den Augenbrauen nach oben und zieht mit einem Ruck seine Kapuze auf.

Ich pruste los und selbst er muss lächeln. Zum ersten Mal wiederlachen. Nach Wochen. Oder Monaten? Ich weiß gar nicht mehr so genau,wann das alles aufgehört hat. Jetzt taucht dieser Fremde hier auf und schafft es in Minuten mich aus der Fassung zu bringen.

Es klingelt. Vorbei ist es mit der einsamen Insel. Na ja, fast einsamen Insel. Jetzt muss ich wieder zurück an Land. Zurück in die Realität. Sofort ist mein Lachen verschwunden.

„Kopf hoch. Sind doch nur noch ein paar Stunden." sagt Robin Hood und beugt sich auf seine Knie.

„Schön wär's, aber morgen ist auch noch ein Tag." ich packe lustlos meine Sachen zusammen. „Wo musst du jetzt hin?" frage ich nebenbei.

„Ach, weißt du, ich geh immer erst ganz zum Schluss."

„Tja, ich kann mir das nicht leisten.." murmle ich und stehe auf.Ich greife nach meine Tasche und ziehe das Kabel aus meinem Handy.„Na dann, vielleicht sieht man sich nochmal hier."

„Ich hoffe." sagt er lächelnd. Dann ziehe ich ab.



Me and MyselfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt