37. Solid

3.9K 355 199
                                    

Sienna

Wir saßen zu viert um den großen Esstisch in Seths und Harveys Apartment, um in meinen Geburtstag hinein zu feiern. Heute war der achtzehnte Juni und Punkt Mitternacht, am neunzehnten, wurde ich vierundzwanzig.

Hin – und hergerissen zwischen Dankbarkeit, dass ich diesen besonderen Tag mit meiner Familie, sowie meiner besten Freundin verbringen durfte, und Trauer, weil ich nicht bei Niall sein konnte, starrte ich auf mein mit Apfelsaft gefülltes Glas.

„Nun mach nicht so ein Gesicht, Sienna. Vierundzwanzig ist doch kein Beinbruch", zog Harvey mich liebevoll auf.

„Du hast gut reden. Immerhin hast du die Dreißig im letzten Jahr überschritten", meinte ich lachend.

„Warte mal ab, wenn du fünfundzwanzig wirst, backt Harvey dir eine Wahnsinnstorte."

Kaum hatte Seth das ausgesprochen, fühlte ich mich auch schon wieder schlecht. Keiner von ihnen ahnte, dass wir meinen nächsten Geburtstag nicht zusammen feiern würden und die darauffolgenden ebenfalls nicht. Vermutlich nie wieder. Es fühlte sich so endgültig an, wie das Ausbrechen der Apokalypse.

„Ich glaube, ich muss mal auf die Toilette."

Schnell erhob ich mich, um das Badezimmer aufzusuchen. Als ich mich auf die Toilette setzte, betrachtete ich meinen Bauch, der beinahe täglich an Umfang zulegte. Zumindest kam es mir so vor. Noch konnte ich meine Füße sehen, aber schon sehr bald würde dies nicht mehr der Fall sein.

Das Baby wog nun zwischen dreihundert und fünfhundert Gramm bei einer Größe von ungefähr fünfundzwanzig bis sechsundzwanzig Zentimetern. Hin und wieder litt ich unter Sodbrennen, was vermutlich damit in Zusammenhang stand, dass bei meinem Baby nun die Haare zu wachsen begannen. Zum Glück entwickelte es sich völlig normal, trotz der ganzen Stressfaktoren, welche mein Leben beeinflussten.

Am nächsten Wochenende würde ich zum letzten Mal nach Irland fliegen, um Niall zu besuchen, denn am Mittwoch danach fand die Verhandlung statt. Um ehrlich zu sein, sah ich dieser mit gemischten Gefühlen entgegen. Ich durfte nicht anwesend sein, geschweige denn mich in der Nähe des Gerichtsgebäudes aufhalten. Mit der Mafia war eben nicht zu spaßen, doch ich vertraute auf Alistairs Erfahrung in seinem Beruf.

Im Anschluss an die Verhandlung würde ich Niall am Flughafen treffen, um gemeinsam mit ihm unserer neuen Heimat entgegen zu fliegen. Doch vorher musste ich etwas tun, was einer seelischen Hinrichtung glich.

Ich hatte mich dazu entschlossen, Seth, Harvey und auch Gwenny wissen zu lassen, dass sie nicht nach mir zu suchen brauchten. Zu diesem Zweck sollte ich zwei Briefe schreiben. Einen an meinen Bruder und seinen Lebensgefährten und einen an meine beste Freundin.

Noch wusste ich nicht, wie ich das alles zu Papier bringen sollte, ohne einen Nervenzusammenbruch zu erleiden, aber da ich mich nach reiflicher Überlegung für diesen Weg entschieden hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als es durchzuziehen. Es gab nur diese eine Möglichkeit, die Menschen, die mir am Herzen lagen, wissen zu lassen, was mit mir und meiner Zukunft passierte. Denn vor meiner Abreise durfte ich nichts erzählen und danach würde ich Seth, Harvey und Gwenny nicht mehr begegnen.

Ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht, die Schriftstücke zu verfassen, bevor ich zum letzten Mal die Reise nach Irland antrat. Anschließend hatte ich nämlich keinen Kopf mehr dafür, da ich das Nötigste zusammenpacken musste, um dann am Mittwoch endgültig aus meiner Wohnung zu verschwinden.

Noch fühlte sich alles unwirklich an und ich konnte mir nicht vorstellen, London zu verlassen und vielleicht nie wieder hierher zurückzukehren.

Kaum verließ ich Badezimmer wieder, läutete es an der Tür.

Black RoomWo Geschichten leben. Entdecke jetzt